Kamasi Washington, der König der Löwen unter den Jazzern

Kamasi Washington und Cem Akalin FOTO: Peter "Beppo" Szymanski

Kamasi Washington ist der Pharao des neuen Jazz. Mit seinem Album „The Epic“ hat er die Szene aufgerüttelt. Seine Konzerte sind Monate im Voraus  ausverkauft – und sie sind Offenbarungen.

Von Cem Akalin

 

Die musikalische Entladung kommt ohne Umschweife. Alle Instrumente vereinigt zu einem Großangriff auf die Sinne. Patrice Quinn steht in ihrem schulterfreien, enganliegenden, sehr exotisch wirkenden Kleid an der Seite, die Arme erhoben, die Augen geschlossen, bereit zu einem Beschwörungstanz. Das Publikum – sehr gemischte Altersstruktur – tobt vom ersten Takt an. Junge Mädchen und Männer tanzen wild. Die Musik löst sich aus der Feuersbrunst und offenbart, geleitet von Saxophon und Posaune, das Thema von „Change of the Guard“. Ja, das ist eindeutig Jazz. Ist das Jazz? Die Musik groovt, sie feiert, sie schwebt, schwankt, fließt wie von allen Seiten durch die Körper. Der Keyboarder übernimmt mit einem Hip-Hop-artigen Rhythmusspiel die Führung. Es folgt eine Improvisation zwischen frei assoziierendem Jazz, Electrobeats, Funk und Rhythm & Blues. Zurück zum Thema. Das Saxophonsolo ist sehr John Coltrane, sehr Pharao Sanders und doch so modern. Gesänge wie aus einem Shaft-Film der 1970er Jahre mischen sich unter ein vorwärtstreibendes Pianospiel. So erleben wir Kamasi Washington und sein achtköpfiges Ensemble in Liège. Der US-amerikanische Saxophonist wird derzeit als das Ereignis des Jazz gefeiert. Der 35-jährige Musiker aus Los Angeles hat mit seinem Dreifach-Album „The Epic“ die Jazzwelt aufgerüttelt und Nichtjazzer in ein Genre gesogen, wie kaum ein anderer in den letzten 30 Jahren. Die New York Times schrieb verwundert, Kamasi Washington sei etwas, was es in seinem Genre schon längst nicht mehr gebe: ein Star.

Willy Demeyer, Anwalt, Sozialist, Bürgermeister von Liège, steht in der ersten Reihe und feuert Washington an, als stünde er auf einer Sporttribüne. „Der Mann ist unglaublich! Wir sind extra nach Montreal gereist, um ihn zu sehen. Seine Musik ist … unbeschreiblich.“

Was ist das für eine Musik, die die Fans gleich so einnimmt, dass manchen die Tränen in die Augen schießen? Woher kommt die Faszination? Washington schlägt einen gewaltigen Bogen vom erdigem Blues, Modern Jazz und einem funky-poppig arrangierten Swing-Standard wie „Cherokee“ über wilden Hardbop, stürmischen modalen Jazz bis hin zu wilden Free-Ausbrüchen, aber auch souligen Einlagen. Diese Fülle an Ausdrucksformen kommt nicht von ungefähr: Der Saxofonist war ab 2005 unter anderem Solist in der legendären Bigband von Gerald Wilson, spielte aber auch mit Rappern wie Snoop Dogg und Kendrick Lamar.

Wir treffen Kamasi Washington nach dem Konzert hinter der Bühne. Fast 1,90 groß, 200 Pfund schwer. Er spricht leise, fast sanft, während er sein Saxophon einpackt. Er trägt einen schwarzen, bodenlangen afrikanischen Mantel mit glitzernden Stickereien. Die Finger sind voller Ringe. Walnussgroße Türkise, Silberschmuck, am kleinen Finger sowas wie der Kopf eines Säbeltigers.

„The Epic“ – das sind fast drei Stunden Musik, eine Suite, komponiert für ein zehn- bis zwölfköpfiges Ensemble, das zeitweise unterstützt wird von einem 32-Mann-Orchester und einem 20 Stimmen starken Chor. Er setzt zwei Schlagzeuger, zwei Bassisten ein. Live ist diese Prozession aus Tänzern und Musikern nur selten in dieser Form aufgeführt worden. Es ist das zurzeit meistdiskutierte Album. Die Musik wirkt organisch, wie zusammengewachsen. Sie strömt sagenhafte Freiheit aus. Woher kommt sie? „Das ist die Einheit, die du heraushörst“, sagt Kamasi Washington und lächelt zufrieden.

Diese große Verbundenheit, die Intimität zwischen den Musikern ist also wichtig? „Ziemlich wichtig“, sagt er. „Du musst einen Draht zu den Leuten haben, mit denen du spielst. Und zwischen uns herrscht die beste Verbindung, die ich mir vorstellen kann. Sie ist positiv. Und was du beschreibst, das ist eine Band, die ein Herz und eine Seele sind. Dieses Gemeinschaftsgefühl kommt in unserem Zusammenspiel zum Ausdruck.“ Die Musiker verstehen sich als Kollektiv, sie kennen sich teilweise seit sie 13 Jahre alt sind, man kann also sagen, ihr ganzes Leben. Bassist Thundercat und sein Bruder Drummer Ronald Bruner Jr., Bassist Miles Mosley, Drummer Tony Austin, Keyboarder Brandon Coleman, den Washington nur „Professor Boogie“ nennt („Sogar sein Gang groovt“), Pianist Cameron Graves, Posaunist Ryan Porter und eben Sängerin Patrice Quinn.

Sie kommen praktisch alle aus demselben Viertel. Aus einer der dunkelsten Ecken der USA. Leimert Park liegt mitten in South Central Los Angeles, der Gegend, die mit ihrer Kriminalitätsrate seit den 1970er Jahren in den Top Ten der USA ist.

Leimert Park. Der Anteil der Afro-Amerikaner liegt bei 80 Prozent, nur anderthalb Prozent sind Weiße. Das Viertel hat auch eine andere Seite. Es hat eine sehr lebendige Kulturszene. Der Filmemacher John Singleton (“Boyz n the Hood”) nannte es mal “das schwarze Greenwich Village“, in Anlehnung an das New Yorker Künstlerviertel. Hier wächst Washington auf. Sein Vater Rickey ist auch Musiker. Als Kind habe er auch ein Gang-Mitglied oder ein Krimineller werden wollen, sagt Washington ungerührt. Ein Afro-Amerikaner müsse in Amerika mit dem negativen Image leben, meint der 35-Jährige. „Egal, ob du Zeitungen liest oder den Fernseher einschaltest, überall heißt es: Du bist kriminell, drogensüchtig, ein Zuhälter oder eine Nutte.“

„Zwei Dinge haben mich gerettet. Ein Cousin brachte mich mit der Musik von Art Blakey und Wayne Shorter zusammen, und so kam ich zum Jazz. Das Zweite war ein Sozialprogramm an unserer Schule.“ Washington lacht leise kopfschüttelnd, wenn er daran denkt. „Das erste, was sie uns gaben, war die Autobiographie von Malcolm X. Die hat vieles in mir verändert. Sie hat mir bewusst gemacht, dass diese Images uns von anderen Leuten aufgepresst wurden. Das veränderte mein Denken.“

imageIn Kamasi Washingtons Vorstellung wird Musik von der Persönlichkeit, von den Erfahrungen des Einzelnen maßgeblich bestimmt. Und in „The Epic“ geht es viel um Veränderung, die afro-amerikanische Geschichte spielt eine große Rolle. Er greift „Malcolm’s Theme“ von Terence Blanchard auf, ein Stück über den 1965 ermordeten Schwarzenführer. Und die von Henrietta Lacks über eine Afroamerikanerin, die 1951 jung an Gebärmutterhalskrebs starb. Vor einigen Jahren machte ein Buch der Journalistin Rebecca Skloot in den USA Furore, weil es besonders krass den Umgang mit der afroamerikanischen Bevölkerung demonstriert. Lacks waren vor ihrem Tod ohne ihr Wissen Zellproben entnommen worden, die sich überraschenderweise vermehrten. Es war der entscheidende Durchbruch in der Zellkulturforschung. Aber Skloot wirft auch ethische Fragen auf. Sie erzählt vom tragischen Familienschicksal der Lacks’ – geprägt von Rassismus und mangelnden Bildungschancen. Während Washington im Hintergrund wilde, ja wütende Saxophonlinien spielt, lässt er Patrice Quinn, teilweise nur vom Piano begleitete, schöne Melodien singen. Von der „sanftmütigen Dame, die ihren Kampf allein mit Liebe kämpfte. Hatte keine Rüstung, keine Waffe, keine Lust zu fliehen“.

Ist „The Epic“ also auch ein politisches Album? Washington: „Ja, klar. Es hat ja etwas mit mir zu tun und dem politischen Klima, mit dem wir es in den USA zu tun haben. Mit den Kontroversen, dass, wenn du so aussiehst wie ich, du in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Bedrohung darstellst. Um es einfach ausdrücken: Mein Leben ist in Gefahr! Einfach nur weil ich so aussehe. Und das sind die Umstände, in denen ich lebe. Seit ich zwölf, dreizehn Jahre alt bin, muss ich mit dieser Realität leben. Diese Qualität der Welt, in der ich lebe, hat mich definitiv geprägt und spiegelt sich in meiner Musik wider. Rassismus ist Teil meines Lebens.“

Wenn wir über Einflüsse von frühen Jazzmusikern reden, wird einem klar, warum Washington so auf den eigenen Erfahrungen besteht, die seine Freunde und er gemacht haben. Jazztradition? „Das bedeutet, von den Leuten zu lernen, die vor dir Musik gemacht haben, und wir bringen es Schritt für Schritt auf die nächste Stufe. Und das wiederum ist eine Repräsentation davon, wer du bist und wie die Welt ist, in der du gerade lebst. Die Musik von John Coltrane ist eine Stellungnahme über die Welt seiner Zeit.“ Und doch gibt es jede Menge Berührungspunkte zwischen ihm und John Coltrane. „John Coltrane hatte den größten Einfluss auf das Saxophon, also auch auf mich! Ich habe mich tatsächlich sehr viel mit ihm beschäftigt, habe viel über ihn gelesen. Er ist definitiv mein größter Einfluss. Aber: Ich kann ganz sicher nicht dieselbe Musik machen wie er. Ich habe nicht sein Leben gelebt, habe nicht seine Erfahrungen gemacht. Aber sein Rhythmus, sein Spirit, seine Wertgrundlagen sind für meine Musik ebenso wichtig wie die von Sidney Bechet und Coleman Hawkins es für ihn waren.“

Und so ist „The Epic“ auch als eindeutiges Statement zu sehen, als autobiografische Deklaration der neuen Freiheit des Jazz. Die drei Alben sind als Trilogie zu verstehen. Sie gehören zwar irgendwie zusammen, aber dennoch gibt es Unterschiede, so wie in einem Roman, der aus drei Teilen besteht und unterschiedliche Spannungsbögen hat.

„The Plan“ heißt der erste Teil und besteht aus Kompositionen, die Washington vor langer Zeit schrieb. „Als wir in der Highschool waren, die Typen von der Band und ich, da träumten wir davon, eines Tages die Welt zu bereisen und unsere einzigartige Musik zu spielen.“

Der zweite Teil, “The Glorious Tale”, entstand zu der Zeit, als Washigton für andere Musiker spielte. Denn tatsächlich tauchte Washington ja nicht aus dem Nichts auf. Er verlieh sein Saxophon und sich Leuten wie Steven Ellison alias Flying Lotus, Lauryn Hill, Snoop Dogg und Kendrick Lamar, Jazzern wie McCoy Tyner und George Duke. „Einerseits wurden wir nervös, weil wir dachten, dass unser Plan nicht aufgehen würde, andererseits hat es uns reifer gemacht, andere Musik zu spielen“, erzählt er.

2010/2011 habe er dann sowas wie eine Offenbarung gehabt: „Ich musste meine eigene Musik machen. Weißt du, ich bin ein Musiker der zweiten Generation, so wie alle Leute in meiner Band. Das heißt, dass wir Musiker sind, die nie etwas geschaffen haben, das für etwas steht, wer wir sind. Wir haben unser ganzes Leben damit verbracht, für andere Leute zu spielen. Wir kennen die Geschichte, wir wissen, was vor uns passiert ist, aber wir wollen es nicht auf dieselbe Art wiederholen.“ Und so gesehen sei „The Epic“ die „Deklaration unseres eigenen Sounds“.

Das Cover ist schon ein Statement. Washington, das Saxophon wie ein Gewehr zum Salut an die Schulter gelehnt, hinter sich zwei Monde. Hinter der 172 Minuten langen Suite steht auch ein Traum. Es geht um einen alten Mann, einen Krieger, der Wächter einer Stadt ist. Zwei Meilen unter seinem Sitz ist diese Gruppe junger Krieger, die ihre ganze Zeit damit verbringen, sich auszubilden, um den Wächter zu töten und die Kontrolle des Tores zu ergreifen. Doch einer nach dem anderen werden sie von der Wache erschlagen. Eines Tages erwacht der alte Mann und realisiert, dass er alles nur geträumt hat. Die Kampfschule da unten existiert zwar. Aber es sind alles nur Kinder. Und als diese alt genug sind, um den alten Mann herauszufordern, ist er verschwunden.

 

 

Hinter der 172 Minuten langen Suite steht auch ein Traum. Es geht um einen alten Mann, einen Krieger, der Wächter einer Stadt ist. Zwei Meilen unter seinem Sitz ist diese Gruppe junger Krieger, die ihre ganze Zeit damit verbringen, sich auszubilden, um den Wächter zu töten und die Kontrolle des Tores zu ergreifen. Doch einer nach dem anderen werden sie von der Wache erschlagen. Eines Tages erwacht der alte Mann und realisiert, dass er alles nur geträumt hat. Die Kampfschule da unten existiert zwar. Aber es sind alles nur Kinder. Und als diese alt genug sind, um den alten Mann herauszufordern, ist er verschwunden.