Martin Tingvalls Soloalbum ist wie ein musikalischer Reiseroman

Martin Tingvall im Interview über sein neues Soloalbum "Distance" FOTO: HORST MÜLLER

Das Tingvall Trio gehört zu den Publikumslieblingen in Deutschland – nicht nur in Bonn, wo sie stets zwei Abende hintereinander vor ausverkauftem Haus auftreten. Die Leser des Jazz Thing Magazins wählten sie einmal zum Jazzereignis des Jahres. Jetzt hat sich Martin Tingvall zum zweiten Mal an die Königsklasse seines Instruments gewagt und ein Solopianoalbum aufgenommen. „Distance“ ist ein Album voll schöner Momente der Ruhe, ein Album, in dem der Schwede seine Lust an wundervollen Melodien und seine Liebe zur Klassischen Musik ausspielt – alles unter dem freien Dach des Jazz. Mit Martin Tingvall, der u.a. am 27. Oktober im Café Hahn in Koblenz zu hören ist (Tourdaten bitte runterscrollen), sprach Cem Akalin.

Martin, du bist ein rätselhafter Mensch.

Martin Tingvall: Das nehme ich als Kompliment. (lacht)

Mit deinem Trio hast du einen so lebensbejahenden Klang, auf dem letzten Album „Beat“ sind Stücke drauf, da hört man dich geradezu jauchzen. Da hört man eine unglaubliche Lebenskraft.

Tingvall: Zusammen haben wir eben auch eine große Energie.

Jetzt kommt dein zweites Soloalbum „Distance“ heraus. Der Titel ist Programm, oder?

Martin Tingvall im Interview. FOTO: Horst Müller
Martin Tingvall im Interview. FOTO: Horst Müller

Tingvall: Nein. Es geht mir nicht um ein einzelnes Thema, sondern um die Vielfältigkeit, die man in der Entfernung erwartet. Für mich ist das Album das Einheitlichste, das ich gemacht habe. Es sind in der Tat fast – ganz bewusst – nur ruhige Nummern drauf. Ich wollte Abstand nehmen vom hektischen Alltag, von der schnelllebigen Zeit, in der wir leben. Da bieten sich Balladen an. Dennoch sind unterschiedliche Stimmungen vertreten. Balladen können durchaus auch unterschiedliche Facetten haben.

Das erste Stück „An idea of distance“…

Tingvall: … beschreibt, wie ich mir die Entfernung vorstelle.

Was macht den Unterschied aus zwischen dem Arbeiten mit dem Trio und dem Solo-Projekt?

Tingvall: Das sind sehr unterschiedliche Dinge. Ich schreibe sehr viel Musik. Für mich, für andere Künstler…

Wie Udo Lindenberg. Aber du schreibst auch Filmmusik, zum Beispiel für den „Tatort“.

Tingvall: Ja, das stimmt. Seit 2012 durfte ich mehrere Filme vertonen. Das ist eine große Herausforderung, die mir sehr viel Spaß macht. Ich schreibe fast alles auf dem Flügel. Deswegen fühlt sich das für mich ganz natürlich an, wenn ich für mein Soloprojekt arbeite. Die Arbeit mit dem Trio ist wieder eine ganz andere Sache.

Bei den Konzerten mit dem Trio merkt man, dass Ihr eine Band seid, die von der Freundschaft gehalten wird. Bei unserem letzten Gespräch vor einem Jahr sagtest du auch, dass diese eine der wichtigen Komponenten des Trios ist. Aber deine Seele scheint eine Kammer zu haben, in der die Einsamkeit herrscht.

Martin Tingvall im Interview. FOTO: Horst Müller
Martin Tingvall im Interview. FOTO: Horst Müller

Tingvall: Auf jeden… Mhm… Einsamkeit? Ich würde nicht sagen, dass in mir Einsamkeit herrscht. Aber ich sehne mich tatsächlich manchmal danach. Die Sehnsucht nach Ruhe, Abstand vom Schnelllebigen zu bekommen. Weiß du, man ist heutzutage doch immer und für jeden erreichbar. Man hat kaum noch Zeit für persönliche Begegnungen. Kommunikation läuft häufiger über SMS.

Du hast dafür eine Lösung in deinem Leben: Du lebst mit deiner Familie in Hamburg, aber ihr zieht euch auch schon mal zurück in Euer Haus in der schwedischen Einsamkeit.

Tingvall: Ja, das funktioniert wunderbar! Es ist doch so: Ich fühle mich nicht einsam, aber ich mag die Einsamkeit. Ich denke, das geht jedem Menschen so. Mir bringt das auch Impressionen und Ruhe für meine Kompositionen.

Du hast einmal gesagt: „Wenn ich einen schlechten Tag habe oder aus der Kurve fliege, wie ich es manchmal tue, dann merkt das keiner, weil die [also dein Trio] mich immer auffangen.“ Wie ist das zu verstehen?

Tingvall: Jeder Musiker hat mal gute und schlechte Tage, hat mal mehr und mal weniger Ideen. So ist es auch bei Konzerten. Wenn man so lange Musik macht wie mit Jürgen [Spiegel, Schlagzeug] und Omar (Rodriguez Calvo, Kontrabass] – Jürgen kenne ich seit 20 Jahren – dann kann man sich auf einen reichen Fundus von Ideen verlassen, dann kann man sich immer wieder die Bälle zuspielen.

Das ist die musikalische Seite. Den Satz verstehe ich aber mehr im Persönlichen.

Tingvall: Es ist beides! Und das ist das Schöne! Die Freundschaft und die Musik hängen bei uns ganz eng zusammen. Das lässt sich schwer voneinander trennen. Wenn wir auf der Bühne sind, dann sprechen da drei Freunde – durch ihre Instrumente. Und das ist vielleicht unsere Stärke.

Und im Soloprojekt?

Tingvall: Ich habe den Stücken noch mehr Freiheit gegeben. Das war für mich auch ein Wagnis. Ich wollte mich trauen, mehr Freiheit zuzulassen, als beim ersten Soloalbum.

Nochmal zum Eingangsstück „An Idea Of Distance“. Es hat sehr viele kammermusikalische Anklänge, irgendwo zwischen Mozart und Eric Satie.

Tingvall: Das stimmt. Ich liebe ja Klassische Musik. Ich höre gern Grieg.

Was man auch hört.

Tingvall: Dazu stehe ich auch. (lacht) Aber ich mag auch schwedische Folklore. Jazz. Rock. Das sind alles Elemente, die in meine Musik einfließen.

Die Stücke sind nach einer Reise nach Island entstanden, und aus den Stücken erklingt diese Schwermut, die man von Bobo Stenson und Jan Garbarek kennt, und die man so mit dem skandinavischen Jazz verbindet.

Martin Tingvall im Interview. FOTO: Horst Müller
Martin Tingvall im Interview. FOTO: Horst Müller

Tingvall: Danke für diese Vergleiche. (lacht) Als ich in Island war, da hatte ich dieses skandinavische „Urerlebnis“. Nicht nur landschaftlich. Das ist ja wie eine Fantasie, wie eine Traumwelt. Und so abwechslungsreich. Du fährst an Wasserfällen vorbei, an schwarzen Sandwüsten, an Mondlandschaften. Und du hast diese extremen Entfernungen zwischen den Ortschaften. Das alles hat mich immens inspiriert. Diese Reise hat mir wirklich geholfen, mich zu entschleunigen, zu reflektieren.

Landschaften inspirieren dich?

Tingvall: Auf jeden Fall! Aber Menschen auch. Diese Zwischenmenschlichkeit, die Wärme der Menschen in Island hat mich auch beeindruckt. Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen sich dort ganz anders Zeit füreinander nehmen, und das trotz der Entfernungen. Sie sind unheimlich herzlich.

Nochmal zu dieser Grundstimmung in deiner Musik, überhaupt im skandinavischen Jazz. Du hast mir das einmal damit erklärt, dass Ihr sehr eng mit der skandinavischen Volksmusik aufwachst. Das ist nur eine soziologische Erklärung. Was ist die psychologische?

Tingvall: Man wird ja vor allem durch seine Kindheit geprägt. Ich bin in Schweden aufgewachsen. Und da gehört unsere Volksmusik eben zum Alltag. Du singst sie im Schulchor, an Feiertagen…

Und die ist geprägt von Schwermut?

Tingvall: Nicht nur! Aber es ist richtig: Es gibt viel Moll in der schwedischen Musik, sowohl in der Volks- als auch der Pop-Musik.

Die schwedische Rockmusik ist ja auch eher düster.

Tingvall: Sehr düster!

Woher kommt das?

Tingvall: Das ist schon die Grundstimmung in unserer Volksmusik.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Dein neues Album ist ja kein depressives Werk. Es ist voller Sehnsüchte. Was sind das für Sehnsüchte, die Schweden offensichtlich haben?

Tingvall: In unserer Musik ist viel Luft. Viele leben relativ einsam. Man sitzt in seinem Haus, hat wenig Kontakt zu anderen Menschen. Man hat Zeit nachzudenken, den Blick über die Landschaft streifen zu lassen. Es gibt wenig Störmomente.

„The Journey“ oder „Open Land“ sind solche Kompositionen, wo du Horizonte einreißt, aber eben nicht mit der Wucht einer Axt, sondern mit sehr gezielten Pinselstrichen.

Tingvall CoverTingvall: Das ist genau das, was ich wollte! Musik zu malen. Aber es sollten eben Bilder mit Überraschungsmomenten sein. Ich folge der Musik und bin selbst oft überrascht, wohin sie mich führt. Es geht nicht ums Ego, nicht darum, zu demonstrieren, welche technischen Fertigkeiten man hat, sondern um die Stimmung in der Musik. Es sind Erzählungen. Die Musik ist wichtiger als ich selbst.

Das letzte Stück ist das einzige, das nicht auf dem Flügel gespielt ist, sondern auf …

Tingvall: … auf einer Celesta.

Es klingt wie ein Glockenspiel. Die Melodie kommt aber aus einem Fender Rhodes. Das alles hat eine völlig andere Klangfarbe.

Tingvall: Ich wollte eine neue Dimension hineinbringen. Und die Celesta und das Fender Rhodes passten einfach zu diesem Stück.

Das Album hat ja eine Dramaturgie, es ist wie ein Kreis, der sich am Ende schließt. Es ist eine musikalische Geschichte, an deren Ende der Verfasser „aus der Distanz“ eine Episode erzählt. Es ist sowas wie ein musikalischer Reiseroman.

Tingvall: Das freut mich, dass du das erkennst! Ich mag es, wenn solch ein Album eine eigene Einheit bildet.

Was ist mit dem Erzähler geschehen? Wo steht er?

Tingvall: Eine sehr gute Frage, auf die ich keine Antwort geben will. Weil ich möchte, dass das jeder Hörer für sich selbst entscheidet!

 

 

Martin Tinvall über…

Keith Jarrett, der gerade 70 Jahre alt geworden ist, ist…

„… einer der genialsten Musiker unserer Zeit und ein großes Vorbild für viele, die sich mit improvisierter Musik beschäftigen. Aber ich selbst habe tatsächlich nie Inspirationen von Keith Jarrett bekommen.“

Seine „Köln Concerts“ …

„… habe ich natürlich und finde sie fantastisch, aber es war nie eine Inspirationsquelle für mich.“

Bobo Stenson …

„… ist der Urvater des skandinavischen Jazzklaviers.“

Jazz ist…

„… ein sehr großer Begriff. Improvisation ist ein großer Teil des Jazz, aber es gibt keine engen Gesetze, wie sich die Musik zusammensetzt. Jeder kann, muss seinen eigenen Mix machen. Aber insgesamt mag ich es nicht, wenn man Musik in Schubladen packt. Aber Jazz bedeutet einfach große Freiheit.“

Einsamkeit …

„… sind Erholungspausen.“

Freundschaft bedeutet…

„… nicht allein sein.“

 

Martin Tingvall auf Solo-Tour:

Innsbruck (A) – Treibhaus: 17.10.2015
Rottenmann (A) – Kulturviech: 18.10.2015
München – Black Box: 19.10.2015
Berlin – KD 211:musique: 21.10.2015
Karlsruhe – Tempel Kulturzentrum: 23.10.2015
Sylt – Kontorhaus Keitum: 25.10.2015
Koblenz – Café Hahn: 27.10.2015
Köln – Altes Pfandhaus: 28.10.2015
Jena – Volksbad: 29.10.2015
Bremen – KITO: 27.11.2015
Coesfeld – Burg Vischering: 28.11.2015
Oldenburg – Theater Laboratorium: 29.11.2015
Hannover – Schloss Landestrost: 03.12.2015
Helmbrechts Textilmuseum: 05.12.2015
Flensburg – Emmi Leisner Saal: 08.12.2015
Kiel – Kulturforum: 09.12.2015
Kreuztal – Stadthalle: 10.12.2015
Göppingen – Odeon: 11.12.2015