Es war einer dieser magischen Momente eines Konzertes. Carlos Santanas Blick bleibt mitten in einem seiner Gitarrensoli auf dem Kunst!Rasen bei einer vorbeisegelnden Möwe hängen, er stockt, lässt die Band kurz innehalten, lächelt und stimmt John Coltranes Thema „A Love Supreme“ an. Im GA-Interview hatte er zuvor erklärt, was ihm der Saxophonist bedeutet. „Er war derjenige, der mir gezeigt hat, dass die Musik nicht einfach eine Floskel ist, sie ist eine Lebenseinstellung“, so der Rockmusiker. Durch Coltrane sei er dazu gekommen, sich mit fernöstlicher Philosophie zu beschäftigen, mit dem Christentum, überhaupt mit der spirituellen Entwicklung des Geistes. John Coltrane gehöre zu jenen Menschen, die „eine Art von Unsterblichkeit erreicht haben, einen besonderen Grad von Gutem, Großartigkeit und Spektakulärem.“ Und dann ergänzt er: „Jedes Kind auf dieser Erde sollte Coltranes ‚A Love Supreme‘ hören.“
Santana ist nicht der einzige, auf den die viersätzige Suite solch einen fundamentalen Eindruck hinterlässt. Das vor 50 Jahren entstandene Werk des feinsinnigen Saxophonisten gehört zu den einflussreichsten Alben des Jazz und hat darüber hinaus in viele andere Genres hineingewirkt. Ob Jeff Beck und The Yardbirds, die späten Doors oder Pink Floyd, U2 oder Soft Machine – vieles in der Musik hätte sich wohl anders entwickelt ohne den starken Einfluss Coltranes.
Die Wirkung des Albums, das mit einem gewaltigen Gongschlag und dem wirbelnden Schlagzeugspiel von Elvin Jones beginnt, ist wohl aus unterschiedlichen Gründen so nachhaltig. Vor allem aber kann sich kaum einer, der das Album hört, der religiösen Hymnik von „A Love Supreme“ entziehen. Der Saxophonist Brandford Marsalis erzählte einmal in einer Jazz-Dokumentation, dass er die Platte als Jugendlicher geradezu ununterbrochen gehört habe.
„All praise be to God to whom all praise is due“, erklärt Coltrane selbst sein religiöses Bekenntnis auf der Schallplattenhülle. Dieses Album sei sein Versuch, Gott zu danken. Als der Saxophonist im Dezember 1964 zusammen mit Pianist McCoy Tyner, Bassist Jimmy Garrison und Schlagzeuger Elvin Jones ins Aufnahmestudio ging, hatte er seine Heroinabhängigkeit schon längst hinter sich, doch Coltrane befasst sich in dieser Phase besonders intensiv mit seinem „kosmischen Glauben“, den er sich aus allen Religionen und Philosophien extrahiert, und so entsteht mit „A Love Supreme“ auch so etwas wie eine Hymne an Leben und Tod von geradezu betörender Schönheit. Seine spätere Frau, die Pianistin Alice Coltrane, mit der er seine letzten Werke aufnahm, beschrieb es in einem Buch so: „Wir beide reisten in eine besondere spirituelle Richtung, so erschien es uns nur natürlich, unsere Kräfte zu vereinen.“ Vielleicht hatte Coltrane schon eine Vorahnung, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Er starb am 17. Juli 1967 im Alter von nur 40 Jahren an Leberkrebs.
Als Coltrane „Acknowledgement“ (Anerkennung) mit einem tremolierenden Saxofon startet, ist es, als würde sich ein Tor in Coltranes besonderen Kosmos öffnen, und ehe man sich versieht, zupft Jimmy Garrison am Bass schon das Mantra artige Thema, das Coltrane später fast meditierend singen wird, „A Love Supreme“, und das man kaum noch aus dem Ohr bekommt. Auf die Religiosität weisen alle Titel des 33 Minuten langen Albums hin: „Resolution“ (Entschlossenheit), „Pursuance“ (Streben) und „Psalm“.
Das Quartett stand im Ruf, eines der innovativsten Ensembles des Jazz zu sein. Jeder Auftritt glich einer Expedition ins Unbekannte, Ungeheuerliche. Diesmal indes hat Coltrane alles wohl durchstrukturiert. Es beginnt mit einer großen Anrufung, steigert sich zu immer größerer Intensität und endet mit einem leisen Gebet. Viele interpretieren das Album mit seinem Schaffensprozess des Suchens, Findens und Abkehrens. Schon Jahre zuvor hatte er gemeinsam mit Miles Davis die Form der modalen Improvisation entwickelt, weg von traditionellen Schemata. Die Grundlage bildeten nicht mehr wechselnde Grundakkorde, sondern Skalen. Coltranes Technik ist so einzigartig, dass der Jazz Kritiker des Down Beats 1958 eine neue Bezeichnung kreiert: „sheets of Sound“, Klangflächen. Miles Davis beschrieb seinen Sound einmal so, er klinge, als würde er zwei Töne gleichzeitig spielen.
Es ist wohl so, dass an diesem Album einfach alles stimmt, die unterschiedlichen Stimmungen des Saxophon, McCoy Tyners rasenden Pianoläufe und gewaltigen Block-Quartakkorde, Garrisons ruhig strukturierter Bass und Elvin Jones‘ facettenreiches Schlagzeug – und immer wieder diese hymnischen Phrasen des Saxophons. Nachvollziehbar, dass gerade dieses Album so viele Anhänger, ja Jünger gebiert. 1971 gründet sich in San Fransisco sogar eine Kirchengemeinde, die sich auf Coltrane beruft: die Saint John Coltrane African Orthodox Church.
„Coltrane war der Grund, warum ich zum Saxophon gegriffen habe“, bekennt Peter Materna. Der Bonner Jazzmusiker und künstlerische Leiter des Jazzfest Bonn (22. Mai bis 1. Juni) war von der ungeheuren Kraft und radikalen Kreativität Coltranes beeindruckt. Sein Album „After The Rain“ von 1998 ist als Hommage an Coltrane zu verstehen und auch „Full Moon Party“ (2002) war noch sehr inspiriert vom späten Coltrane. „Was Coltrane damals in einem Jahr an Entwicklung gemacht hat, schaffen viele Musiker nicht mal in 20 Jahren“, so Materna.
Wir fragen weitere Musiker. „‘A Love Supreme‘ ist eine zutiefst spirituelle Arbeit, ein zeitloser Klassiker“, sagt die amerikanische Pianistin und Lehrbeauftragte für Jazzpiano an der University of North Florida, Lynne Arriale, die schon einige Mal in Bonn aufgetreten ist. „Als ich es zum ersten Mal hörte, war ich von der Kraft und Intensität der Musiker und der Musik überwältigt. Ich fühlte in diesem epischen Werk geradezu die Liebe und die Sehnsucht nach dem Göttlichen.“
Die Saxophonistin und Komponistin Angelika Niescier wird am Dienstag, 27. Mai, auf dem Jazzfest spielen, diesmal mit dem Jazz-Akkordeonisten Simone Zanchini und dem Bassisten Stefano Senni in der Brotfabrik. Auch sie outet sich als Coltrane-Anhängerin. „A Love Supreme“, sagt sie, „ist eine wahnsinnig intensive, unfassbare Aufnahme, die deshalb für mich eine der wenigen endlosen Quellen an Inspiration ist.“
Auch auf dem Jazzfest zu hören: Andreas Dombert (Gitarre) und Chris Gall (Flügel) spielen am 25. Mai im Leoninum. Dombert, bekannt dafür, neue avantgardistische Wege zu beschreiten und keine Berührungsängste zu anderen Genres zu haben, sagt: „Coltrane ist ein eigenes Universum, in das ich mich von Zeit zu Zeit begebe, um zu lernen und zu staunen. Seine Melodien und Motive sind musikalisch und technisch eine Herausforderung – gerade für Gitarristen. Coltrane ist für mich so eine Art unerreichbarer Standard des Möglichen.“ Und Chris Gall schätzt vor allem die langen Spannungsbögen auf Coltranes Album. „Die einzelnen Motive haben alle viel Zeit, sich in Ruhe zu entwickeln. Manche Motive könnten sich entwickeln, wie Charaktere in einem guten Film. Insgesamt war das Album auf jeden Fall stilprägend. Nicht so sehr durch das Format der Kompositionen, sondern durch die Farbe der Melodik und irgendwie hypnotischen Eigenschaften.“