Pianistin Ulrike Haage ist auf Spurensuche

Ulrike Haage. Foto: Promo

Ulrike Haage, früher Teil der Rainbirds, ist eine ganz ungewöhnliche Jazz-Musikerin, die gehört zu den Künstlern, für die Musik mehr als akustische Unterhaltung ist. Ihre Musik ist tiefgründig, vielschichtig, Musik fürs Hirn, aber auch für Seele und Herz. Sie ist ein wenig so, wie es John Cale mal in einem Lied gesungen hat: „In zen and the art of forgery we’re losing control of light„. Das Interview führten wir im Mai 2011 im Vorfeld ihres Konzertes auf dem Jazzfest Bonn. Es ist irgendwie zeitlos, und da es in dieser Länge noch nie erschienen ist, habe ich mich entschlossen, es auf J&R zu veröffentlichen. Mit der Musikerin sprach Cem Akalin.

Frau Haage, wie würden Sie heute Ihre Stimmung beschreiben?

Ulrike Haage: Ich freue mich zur Zeit, mit meinem Publikum und meinen Freunden, an den musikalischen Projekten, von der neuen Solo CD, die gut aufgenommen wird, bis zu der wunderbaren Arbeit an der Kinderoper Reineke Fuchs. Eher pessimistisch stimmen mich Ereignisse wie Fukushima und das Zerren um eine kluge Energiepolitik und einen klügeren Umgang miteinander auf dieser Welt, auf der wir ja nur zu Gast sind.

Zumindest musikalisch scheinen Sie auf der Suche nach dem perfekten Klang der Melancholie zu sein. Oder sehen Sie das anders?

Haage: Ich habe kein eindeutiges Wort für meinen Klang. Sicherlich ist ein Menschheitsgefühl, dessen überfallartige Existenz uns immer wieder überrascht, die Melancholie. Sie hat eine so „weise“ Tiefe und wirkt rätselhafter als die einfache pure Freude. Für mich gehört beides zusammen. Ich bin auf der Spurensuche nach dem, was ich noch nicht weiß und was dennoch in mir steckt. Das ist ein positives Gefühl, eine Art permanente Herausforderung.

Ihre Musik fordert den Zuhörer, sich ganz auf Sie einzustellen. Sie fangen mitunter sehr experimentell an und enden mit traumhaften Melodien. Wie viel davon ist Kalkül, wie viel Improvisation?

Haage: Die Stücke haben alle einen kompositorischen Rahmen, manchmal führt mich die Improvisation fort und ich erfinde eine neue Melodie oder neue Klänge. Meine Musik hat rhythmische Elemente, die interpretierbar sind, partiell stark strukturiert und den Freiraum für plötzliche Einfälle, Einwürfe oder Auslassungen geben.

Manches erinnert mich an Filmmusik. Zumindest liefern Sie ja auch die Musik für Hörspiele und Hörbücher. Was reizt Sie dabei?

Haage: Ich höre sehr oft, dass meine Musik wie Filmmusik ohne Film sei oder eben Bilder im Kopf des Hörenden evoziere. Bei den Soundtracks für Hörspiele oder meinen musikalisch-literarischen Arbeiten für das Radio reizt es mich, dass keine Bilder da sind. Es ist ein unendlich offener Raum für akustische Klangwelten und Experimente. Ich kann die Stimmung für den Film-im-Kopf erschaffen oder den Figuren eine weitere Tiefe, einen Charakter verleihen. Ich kann Zeit erzählen oder eine unbekannte Zeit erfinden.

Als ich Sie einmal bei einem Solokonzert erlebt habe, wirkten Sie sehr in sich gekehrt. Ihre Musik scheint unberechenbar. Wie funktioniert Ihre Musik im Trio?

Haage: In einem Trio wie diesem muss man sich gut kennen. Ich arbeite seit sechs Jahren mit dem Schlagzeuger Eric Schaefer, wir haben so etwas wie eine gemeinsame Sprache gefunden, die auf dem gegenseitigen Respekt, aber auch der Neugier nach ständiger Erneuerung beruht. Es geht um die Absicht der Kompositionen und den freien improvisatorischen Umgang damit. Dabei kommt es auf der Bühne immer zu unberechenbaren Momenten. Diese wiederum hängen auch mit dem Publikum zusammen, welches ja die andere Hälfte des Kreises bildet, „the creative act is not performed by the artist alone“ (Marcel Duchamp).

Ulrike Haage im Juni 2011 in Bonn. FOTO: JAZZFEST BONN
Ulrike Haage im Juni 2011 in Bonn. FOTO: JAZZFEST BONN

In Bonn werden Sie von Eric Schaefer am Schlagzeug und Angelika Niescier am Saxophon begleitet, die im vergangenen Jahr den Jazz Echo Newcomer gewonnen hat. Sie sei „Coltrane-geschädigt“ behauptet sie von sich. Wie passen Sie beide zusammen?

Haage: Ich glaube, dass Angelika es sehr schätzt, wenn Sie herausgefordert wird. Wir haben vor einigen Jahren im Duo im Jazzclub Domicil gespielt und uns das Motto „Entschleunigung“ gegeben. Das war sehr lustig, da ich fast mehr Töne als sie gespielt habe. Den Platz, den man sich gegenseitig lässt, füllt der andere gerne aus. Bei in:finitum geht es aber ja darum, den freien Raum gemeinsam zu schaffen und nicht in die Lücke zu springen, die einer lässt. Es geht darum, dass Beliebige auszuklammern und dadurch die Intensität zu steigern.

Miles Davis hat sich früher maßlos über John Coltrane geärgert, weil dieser so endlose Soli gespielt hat. Coltranes Antwort lautete: Ich habe eben so viel zu sagen. Sie sind eher Minimalistin. Sie haben mal gesagt, man könne mit einem einzigen Ton alles sagen. Wie ist das möglich?

Haage: Da kann ich Miles Davis gut verstehen. Mit geht es um die Sinnlichkeit des Hörens, die Sinnlichkeit der Hörenden, und dafür braucht man Platz, Horizonte, leere Räume, wenige Töne. Es ist natürlich eine Metapher, zu sagen, dass ein Ton alles sagen kann. Damit meine ich die Aufmerksamkeit gegenüber dem einen Ton, der eben alles sagen oder Welten öffnen kann. Aber der von mir immer wieder formulierte Wunsch nach dem einen Ton, der genauso viel ausdrückt wie viele Töne, hat auch mit meiner Arbeit mit Sängerinnen zu tun. Sie stimmen einen einzigen Ton an und es geht durch Mark und Bein. Mit der Art des Anschlages, der Berührung einer Flügeltaste, dem sensiblen Umgang mit den Resonanztönen bin ich dieser „Gesanglichkeit einzelner Töne“ auf der Spur.

Der Musikwissenschaftler Volkmar Kramarz behauptet, es gebe bestimmte Akkordfolgen, die Wohlgefallen auslösen – egal aus welchem Kulturkreis man kommt. Sie scheinen das mit Ihrer Auffassung von universell gültigen Klängen zu bestätigen. Lässt sich diese Theorie also auch auf einzelne Töne anwenden?

Haage: Ja ich denke, dass es einzelne Tonfolgen gibt, Melodiefolgen, die in allen Kulturen der Welt auftauchen. Ein einzelner Ton, den der Wind zum Beispiel produziert, ist auch ein universell gültiger oder sagen wir vorhandener Klang.

Sie konzentrieren sich immer mehr auf die Möglichkeiten, die Ihnen der Flügel bietet. Hat die Elektronik ausgedient?

Haage: Ich habe immer mit der Spannung zwischen dem Flügel und der Elektronik gearbeitet, ob bei Vladimir Estragon, den Rainbirds, den Soundtracks für Hörspiele und Film, oder meinen Solo CDs. Es gab in bestimmten Zeiten auch bestimmte Synthesizer, vom Moog bis zum Virus, die ich verwendet habe. Ich bin in einer neuen Zeit angekommen und forsche wieder, was die zukünftige Verwendung von Elektronik angeht. Im Moment ist der Flügel mit einigen Präparationen, die für mich fast schon „klassische Bestandteile“ meiner Klänge sind, das zeitloseste zentrale Instrument.

Ihr aktuelles Album trägt den Titel „in:finitum“. Sehr philosophisch. Der Blick in die Unendlichkeit. Es geht auch um das Ziel der Vollkommenheit. Ist es das, wonach ein Musiker strebt?

Haage: Der Titel meiner letzten CD in:finitum ist ein Wortspiel mit Endlich- und Unendlichkeit. Darum der Doppelpunkt. Durchaus ein Konzept. Alle Kompositionen sind miteinander verbunden. Die “Momen” bilden kleine Inseln und manchmal sind sie auch Themenauszüge in anderer Rhythmik oder anderen Tempi von später wieder auftauchenden Kompositionen. Die großen rhythmischen Themen wie “Fingerprints”, “Lament” und “Evocations” sind zentrale Momente. Es ging mir um eine sparsame Instrumentierung und eine Balance zwischen Komposition und Improvisation, die sich der Absicht des Stückes verschreibt. Das würde ich nicht die Suche nach Vollkommenheit nennen, aber es ist schon das Streben nach Klarheit, nach Klängen, die nicht weiter ergänzt werden müssen, die so bestehen und etwas auslösen können. Etwas, das zwischen Bekannt und Unbekannt liegt.

Zuletzt darf die Frage nach den Rainbirds nicht fehlen. Was ist aus dieser Zeit noch bei Ihnen übrig geblieben? Sehen Sie Katharina Franck noch?

Haage: Die Zeit der Rainbirds ist ein Teil von mir. Es geht nicht darum, ob etwas übrig geblieben ist. Die Songs, die Katharina Franck und ich geschrieben haben, bleiben ja, so wie ein gutes Buch bleibt. Viele der Kompositionen gefallen mir immer noch sehr. Anscheinend geht das auch vielen Fans so, wenn man den Klicks auf Youtube glauben darf. Katharina und ich verfolgen mit Interesse unsere gegenseitigen musikalischen Aktivitäten und sagen uns auch immer noch die Meinung dazu 🙂

 

 

Zur Person

Ulrike Haage, geboren 1957 in Kassel, ist eine deutsche Pianistin, Klangkünstlerin, Komponistin und Hörspielautorin. Sie lebt heute in Berlin.Seit 1989 bildete siemit Katharina Franck das Herzstück der Band Rainbirds.