Wenn das Publikum den Saal während eines Auftritts verlässt, dann mag das unhöflich gegenüber den Künstlern und den anderen Zuschauern/Zuhörern sein. Für manche ist es vielleicht sogar ein Qualitätsprädikat. Jedenfalls für die Freunde des Ungewöhnlichen. So gesehen, war der Auftritt des Experimental-Jazz-Duos Sidsel Endresen und Stian Westerhus am Freitagabend in der Bonner Brotfabrik ein voller Erfolg. Das Doppelkonzert mit den Fuhr Brothers und Endresen/Westerhus gehörte ganz sicher zu den ungewöhnlichsten Programmpunkten des diesjährigen Jazzfest Bonn.
Von Cem Akalin
Manchmal genügt die Sprache eben nicht, um Gefühle auszudrücken. Jeder kennt die „Ahs“ und „Ohs“ bei Verzückung oder Überraschung, das Buhen bei Missbilligung, das Schreien bei Verzweiflung, das Worte schlucken bei Verwirrung. Die Samen, heißt es, entwickelten genau aus diesem Grund das Joik, ein mit dem Jodler verwandter gutturaler Gesang. Die Maori haben unterschiedliche Arten der Gesänge, die für westliche Ohren vielleicht sogar noch unverständlicher sind, als die Obertongesänge der Mongolen oder Tibeter.
Die norwegische Sängerin, Komponistin und Hochschulprofessorin Sidsel Endresen beschäftigt sich schon lange mit den unterschiedlichen Formen des Gesangs und entwickelte für sich die „extended vocal techniques“ weiter. Zu diesen Techniken gehört auch das Flüstern, das Pfeifen, das Heulen und Bellen und streng genommen auch der Death Growl aus dem Metal oder das Beatboxing. Es bezeichnet eine untraditionelle Art des Gesangs, bei dem jede erdenkliche Art des Geräusch-Erzeugens benutzt wird – eine ebenso anstrengende wie sehr persönliche Art des Ausdrucks.
Die 63-jährige Norwegerin und der 37-jähige Gitarrist Stian Westerhus, der auch schon mit Künstlern wie Nils Petter Molvær zusammenarbeitete, scheint ein stilles, mysteriöses Band zu einen. Anders ist dieses vorbehaltlose, sehr private Zusammenspiel bei dieser bedingungslosen Musik gar nicht zu erklären.
Was dieses Duo macht, hat mit herkömmlichem Harmonieverständnis nichts mehr zu tun, auch wenn es Westerhus versteht, aus seiner Gibson-Halbresonanzgitarre und der Batterie an Effektgeräten und Computern sanfte Töne, ja Melodien zu schaffen, zarte Spieluhrenweisen oder mit dem Bogen orchestrale Atmosphären zu bilden.
Darum geht es dem Musiker aber nicht nur. Er zieht den Gitarrenstecker, haut dagegen, lässt es krachen wie Schüsse aus einem Schnellfeuergewehr, schlägt die Saiten am Steg, dass die Töne flirren wie Eis, fernes Donnern, körperlich schon fast unangenehmes Getöse, wie von Düsen eines Jets, die Verstärkerröhren ächzen, quietschen, winseln. Westerhus ist voller Anspannung, er schlägt und traktiert die Gitarre, dreht an Knöpfen, schaltet am Computer, tritt auf die Pedale. Westerhus arbeitet mit dem ganzen Körper, die blonde Mähne hängt wie ein Vorhang vor dem Gesicht. Er scheint völlig in sich gekehrt, nichts mehr um sich herum wahrzunehmen.
Sidsel Endresen sitzt auf einem Stuhl, die Hände arbeiten ständig mit bei ihren Gesängen, die manchmal tatsächlich auch verständliche Sätze hervorbringen und an Joni Mitchells einzigartigen Gesang erinnern. Oft aber kommen Vokale, grell und scharf, Gutturale, also Kehllaute, unterbrochen durch kurzes, aber heftiges Ein- und Ausatmen, Seufzen oder Schluchzen. Sie kämpft um verlorene Sprache, stottert, verschluckt sie, will sich nicht von ihnen vereinnahmen lassen. Die „Klangzellen“, wie sie sie nennt, kommen manchmal mit der archaischen Kraft einer Geburtswehe, manchmal bei einem beiläufigen Summen. Vokale scheinen ihr im Hals stecken zu bleiben, sie würgt sie heraus mit sichtbarem Unbehagen während Westerhus Töne erschafft, wie von sterbenden Elefanten. Sätze, wie unerklärliche Stimmen in einem Traum, nehmen sie ein, scheinen ihren Körper zu knebel, aus denen sie sich windet und eine eigene, neue Sprache gebiert.
Wenn man diese ungewöhnliche Sängerin live auf der Bühne erlebt, dann versteht man, was sie kürzlich dem Magazin „Jazzthing“ anvertraute, dass nämlich das, was sie macht, „ein Drahtseilakt zwischen dem Privaten und dem Künstlerischen“ ist. Die ungewöhnliche Performance, die beide sichtlich enorme Kraft und Anstrengung kostete, wurde mit begeistertem Applaus bedacht – jedenfalls von den verbliebenen Zuschauern.
The Fuhr Brothers gehen freilich einen ganz anderen Weg. Auch wenn sie sich an diesem Abend für die Großen des deutschen Jazz der Nachkriegszeit entschieden, so brachten sie natürlich ihre eigene Ausdrucksweise hinein, wenn sie etwa Albert Mangelsdorffs „Hot Hut“ (1985) spielten. Das Ganze bekam schon deshalb eine völlig andere Note, weil zum Quartett der Fuhr Brothers neben Schlagzeuger Jens Düppe auch der Kölner Gitarrist Norbert Scholly gehört. Wenn er linear zum Saxophon von Wolfgang Fuhr spielte, bekam das einen ganz eigenen Dopplereffekt.
Die eigenartige Exkursion zu den Urvätern des German Jazz führte das Quartett von den polyrhythmischen „Steps of M.C. Escher“ von Wolfgang Dauner oder den wilden Akkordverläufen in Gerd Dudeks „Green Table Speech“ bis zur jazzigen Bearbeitung des mittelalterlichen Volksliedes „Ich armes Mägdelein“.
Indes zeigen der warme Sound von Wolfgang Fuhr, der grenzüberschreitende Bass seines Bruders Dietmar (dessen unfreiwillig komischen Zwischenansagen höchst amüsant waren), die recht eigenwillige Gitarre Schollys und das virtuose Spiel Düppes, dass der „German Jazz“ längst den Staub vergangener Zeiten abgeworfen hat.
Wolfgang Dauners „Pamukkale“, im Original schon ein Meisterwerk, bekommt von diesem Quartett einen Soundtrackumhang verpasst. Wolfgang Fuhr spielt ein federndes, manchmal hingeflüstertes Saxophon, manchmal an Michael Brecker erinnenernd. Diese Version würde zu einem französischen Schwarzweiß-Streifen passen. Manfred Schoofs „Horizons“ kommt in einer meditativen, schon fast psychedelischen Fassung daher. Die eigenständigen, sehr lebendigen Bearbeitungen wurden vom Publikum mit engagiertem Applaus belohnt.