Eddie Vedders Sprung vom Kamerakran in die Menge vor 26 Jahren bleibt ebenso spektakulär wie legendär. „I was a kid“, sagt Vedder fast entschuldigend. „Und ich wusste damals nicht einmal den Unterschied zwischen ‚dutch‘ und ‚danish‘.“ Den kennt er mittlerweile sehr wohl. Pearl Jam bewiesen am Freitagabend vor 73.000 Zuschauern als erste Headliner auf dem Pinkpop-Festival, dass sie zu Recht zu den besten Live Acts des Rock ‚n‘ Roll-Zirkus gehören. Fast zweieinhalb Stunden spielten die US-amerikanischen Rocker, als wollten sie erneut in die Annalen des legendären Festivals im niederländischen Landgraaf aufgenommen werden. Ihr Konzert von 1992 wurde einmal von den Fans als bestes Konzert der Festivalreihe gewählt.
Von Dylan Cem Akalin und Peter „Beppo“ Szymanski
Die Rockveteranen aus Seattle haben offenbar eine unschlagbare Fanbase. Fans aus den USA, aus England und Deutschland mischten sich unter die Fans, erkennbar an den verwachsenen T-Shirts und den Flaggen, die sie in der Menge schwenkten. Ein paar Tage zuvor startete Pearl Jam ihre Welttournee in Amsterdam. Die Truppe von der amerikanischen Westküste brachte einen unvergesslichen Querschnitt ihres ebenso legendären Repertoires mit. Die Eröffnung machte sie indes mit Pink Floyds „Interstellar Overdrive“, das dann in „Corduroy“ überging – mit Eddies unverwechselbarem rauen Vibrato in der Stimme.
Natürlich ist es nicht vergleichbar mit dem, was die damals sehr junge Gruppe machte. Die Energie der Jugend, die den Grunge- Wahnsinn vorantrieb, ist eine andere als die einer Band, die schon mehrmals um die Welt getourt ist. Und doch: Pearl Jam ließ die Muskeln spielen, die Gitarren klangen nicht ganz so dreckig und ungeschliffen, wie damals, dafür gab es vielleicht sogar etwas mehr Gefühl.
Die nostalgische Sehnsucht in uns
Die Band wird sicherlich weniger von Wut und Übermut getrieben. Aber Stücke wie „Why Go“ (1990) oder das albtraumhafte, eindringliche „Red Mosquito“ (1996) haben immer noch die Kraft des unbedingten Ausdrucks. Und zeitlos sind sie auch. „Do the Evolution“ (1997) hat nichts von jugendlicher Empörung. Dass die Band immer noch diese Kraft in sich trägt, zeigt das aktuelle Stück „Can’t Deny Me“, das Vedder unter dem Eindruck der jüngsten Demos der Schüler in den USA gegen die offenen Waffengesetze geschrieben hat. Und Songs wie „Elderly Woman Behind the Counter in a Small Town“ sind von berührender Schönheit. „Hearts and thoughts they fade, fade away“, singt Vedder. Aber wir denken an frühe Zeiten… Und die Menge springt, wenn Vedder die Vokale zu den Zeilen von „Even Flow“ singt, und die Gitarren mit unendlichem Sustain reinsägen. Am Ende donnern die Gitarren wie bei Hendrix‘ legendärem Woodstock-Auftritt. Gänsehaut!
„Dieser Song endet als ein verdammter Albtraum“
Ähnliches gilt für Songs wie „Given to Fly“ oder „Daughter“. Die vielen Klassiker aus den Alben Ten, Vs. oder Vitalogy haben kein bisschen an Lebensgefühl verloren. Vielleicht ist es auch die nostalgische Sehnsucht in uns, die Freude am Rohe und Ungeschliffenen, die Songs wie „Lukin“ oder das kochende „Porch“ so verkörpern. „Once“ fühlt sich immer noch wie ein Vorschlaghammer an. „Dieser Song beginnt wie ein Märchen, endet aber als ein verdammter Albtraum“, knurrte Vedder mit einem grimmigen Zug um seinen Mund. Danach ging das Lied bald zum lobenswerten Crescendo. Wirklich ein Lied, bei dem jeder nach der letzten Note im eigenen Schweiß badet. Bei „Daughter“, dem Song über ein Kind, das in der Schule zurückbleibt und von seinen Eltern misshandelt wird, wird deutlich, wie leicht die Band Geschichten erzählt und wie locker sie das können. Und dann bauen sie auch noch Pink Floyds Zeile „Hey! Teachers! Leave those kids alone“ ein. Und alle singen mit.
Die rohe Emotion des Mike McCready
Genauso spannend vor allem für die holländischen Fans: Trug er unter seinem Flanellholzfällerhemd das vertraute Tivoli-Shirt? Damals vor 26 Jahren trug er es auf Pinkpop, als eine Hommage an ihre erste große ausverkaufte Show in Europa.
Gitarrist Mike McCready führte mit roher Emotion Vedders Horde an, sein explosives Gitarrenspiel bildete sowas wie ein Zentrum im Pearl Jam-Universum, um das sich alle anderen drehten. McCready war zweifellos der andere Held auf der Bühne, die übrigens von wunderschönen Schwarz-Weiß-Bildern auf den Bildschirmen flankiert wurde. Und wenn er bei „Even Flow“ seine Gitarre im Nacken trug oder „Corduroy“ magisch zu einem spannenden Gitarrenepos erweiterte, dann schob sich sowas wie eine zweite Haut unter die Nackenhaare. Einfach irre.
Walden – Indie-Trio aus Holland
Es gab an diesem Freitag noch mehr zu hören. Zum Beispiel Walden. Das holländische Indie-Trio überrascht mit wunderschönen, sehr ausgereiften Songs. Walden hatte den jährlichen Now or Never-Wettbewerb gewonnen – und damit einen Platz auf dem Pinkpop Festival. Über ein halbes Jahr lebte Mees Walden den Traum in Skandinavien, frei wie ein Vogel zu leben und allen Elementen der Natur zu trotzen. Zu Hause hatte er mehr als genug Material, um Songs aufzunehmen, und wenig später gründete er die „psychedelische Fuzz-Band“ (Walden) mit einer echten EP („Artefacts“).
Als Jess Glynne ihr Set mit „Ain’t Got Far to Go“ eröffnet, beginnt die Luft gleich an elektrisch geladen zu werden. Der Soul im Pop der britischen Sängerin geht gleich in die Beine und ins Herz. Den Song „Rather Be“, den sie mit Clean Bandit veröffentlichte und mit einem Grammy ausgezeichnet wurde, singt sie als zweites Stück. Live wird wieder deutlich, wie ausgeklügelt, sparsam, aber effektiv das Lied konzipiert ist. Schöner Auftritt.
The Academic spielen auf der kleinen Stage 4, machen aber Musik für die große Bühne. Die Indie-Rockband aus dem irischen Westmeath mit Craig Fitzgerald (Sänger und Gitarre), Dean Gavin an den Drums und den Brüdern Matthew und Stephen Murtagh an Gitarre und Bass erinnern etwas an The Strokes. Schöne Melodien, viel Sinn für gefühlvolles Songwriting.
Blaudzun hat in den Niederlanden Kultstatus und auch in Deutschland eine wachsende Fanbase. Der folkorientierte Indie ist emotional, hat eine gehörige Portion Britpop und Texte voll rätselhafter Sinnlichkeit. Da gibt es Zeilen wie diese: „She cuts my hair while i’m a sleep/Darling keep heading on/It’s everywhere the ties beneath/Darling i keep heading on.“ Songs wie „Circles“ oder „Islands“ gehen ohne Umschweife mitten ins Herz.
Sieben Jahre mussten Fans der britischen Band Snow Patrol auf neue, gefühlvolle Songs warten. Jetzt hat das Quintett um Frontsänger Gary Lightbody mit „Fallen Empires“ ein neues Werk herausgebracht, und der Astronaut vom Cover ziert den Hintergrund der Bühne. Aber erst das fünfte Stück „Heal Me“ ist aus dem neuen Album. Mit dem stampfenden „Empress“ und der schönen Ballade „What If This Is All The Love You Ever Get?“ sind das aber die einzigen Stücke aus dem aktuellen Werk. Ansonsten verlassen sich die Briten auf ihre altbewährten Hits. Und das Publikum will diese freilich auch hören. Guter Sound, guter Präsentation. Das Konzert wird ebenso in Erinnerung bleiben wie ihr großartiger Auftritt vor neun Jahren.
Fantastische Liveband
Die Popular-Punkband The Offspring beweist in einer schnelllebigen Showwelt, dass sie immer noch zu den besten Livebands gehört. Lead-Sänger und Rhythmusgitarrist Dexter Holland klingt vielleicht sogar besser als je zuvor.
Nicht nur bei der Erfolgsnummer „You’re Gonna Go Far, Kid“ sangen die Fans mit, sprangen während einiger Songs in den Moshpit. Und doch blieb es während der ganzen Show freundlich und ruhig. Das war früher sicher anders. Die Hardcore-Fans sind wohl mitgealtert und brüllen die Songs mit: den Punk „All I Want“, das frenetische „Kids Aren’t All Right“ oder „Why Don’t You Get a Job“ mit dem etwas dümmlichen Text. Auf „Pretty Fly (For a White Guy)“, die erfolgreiche Single von 1998, hat Leadgitarrist Kevin „Noodles“ Wasserman vielleicht seinen besten Hook gespielt. Und das Erstaunliche: Die Songs sind irgendwie würdig gealtert.