Wieder ein Abend der Gegensätze: Am Tag zwei des Jazzfest Bonn standen Antonio Sanchez & Migration mit einem atemberaubenden Auftritt und die hinreißende Berliner Sängerin Lisa Bassenge auf dem Programm. Bassenge hatte im Haus der Geschichte aber leider wenig Glück mit der Akustik: Ihre Gesangsanlage brachte den Zauber ihrer Stimme leider nur unzureichend rüber. Dazu aber erst später.
Von Cem Akalin
„The Meridian Suite“ folgt einer eigenen Ordnung. So wie Längenkreise, die von einem Pol zum anderen führen, und kartographische Gitter und Muster („Grids And Patterns“) Menschen zur Orientierung dienen, sind es wiederkehrende Themen und Versatzstücke, die dem Zuhörer eine Ausrichtung in der Suite, die Antonio Sanchez mit seiner Band in einem Stück spielte, erlauben. Motive, Phrasen, Konzepte tauchen im Laufe der fünfteiligen Suite wie Bewegungen immer wieder auf, werden umgewandelt und eingebaut in neue Kontexte.
Die traditionelle chinesische Medizin arbeitet mit Energiebahnen im menschlichen Körper, die sie ebenfalls als Meridianen bezeichnet. All das hatte Antonio Sanchez wohl im Kopf, als er die mehr als einstündige „Meridian Suite“ schrieb. Die Band führt die Zuhörer durch eine ungeheure Gedanken- und Assoziationenreise über Gitter und Muster, imaginäre Linien („Imaginary Lines“), durch Energiekanäle („Channels Of Energy“), sie nimmt sie mit auf wilde Fahrten auf magnetischen Strömungen („Magnetic Currents“) und auf verwunschenen Pfaden des Verstandes („Pathways Of The Mind“) – bewusstseinserweiternde musikalische Erfahrungen inklusive.
Dabei wirkt dieses durchkomponierte Werk gar nicht wie ein starres, durchgestaltetes Gebilde. Denn es bietet den einzelnen Musikern ausgiebig Freiräume für solistische Exkursionen während der gemeinsamen Reise. Und wie diese Improvisationen sich in den musikalischen Fluss einordnen, ist bemerkenswert. Die Band ist so in sich gefestigt, dass die vokalen Parts von Sanchez‘ Frau Thana Alexa und die Gitarre von Adam Rogers, die beide nicht dabei waren, gar nicht fehlten.
Dass Antonio Sanchez ein Weltklassedrummer ist, hat er nicht nur bei Pat Metheny bewiesen, von seiner kompositorischen Kraft erfuhr ein breites Publikum erst vor zwei Jahren, als Sanchez für seinen Soundtrack zum Film „Birdman“ für einen Golden Globe nominiert wurde. Sanchez‘ Spiel am Schlagzeug ist mehr als beeindruckend, auch wenn er es überhaupt nicht nötig hat, sich selbst als Bandleader übermäßig in Szene zu setzen. Die Musik ist die Königin, der er sich unterordnet, sein inspiriertes Spiel dient dazu, Umrisslinien und Schatten deutlicher auszuarbeiten, die Solisten anzutreiben. Besonders Seamus Blake am Saxophon und EWI (Das Elektric Wind Instrument ist eine Art Synthesizer, das wie ein Blasinstrument bedient wird) spielt sich in geradezu hypnotische Sphären.
Die Band, zu der noch Matt Brewer am elektrischen und akustischen Bass sowie John Escreet (Flügel und Fender Rhodes) gehören, jongliert mit ungeheurer Kreativität mit den Mitteln des modernen Rock, der freien Form der Improvisation, der elektronischen Musik und transformiert sie in ein zukunftsweisendes Jazz-Meisterwerk. Sanchez dehnt die Stile wie auf einem feinen Bogen zu einer neuen Einheit. Dass es da auch mal zu Zitaten der großartige Fusionband Weather Report kommt, ist sicherlich beabsichtigt.
Wenn ein vielfach ausgezeichneter US-amerikanischer Musikproduzent und Songwriter mit einer Berliner Sängerin zusammenarbeitet, ist das wohl schon eine gewisse Anerkennung. Wenn Larry Klein, der nicht nur viele Platten von Joni Mitchell produziert hat, sondern auch lange Zeit mit der Queen der Singer/Songwriter verheiratet war, mit Lisa Bassenge einen Mitchell-Song aufnimmt, will das was heißen.
Tatsächlich ist ihr mit dem Album „Canyon Songs“, das die 41-Jährige in Los Angeles aufnahm, eine ganz besondere Verneigung vor den Legenden der Musikszene der 1960er und 1970er Jahre gelungen, die sich im kalifornischen Laurel Canyon eine Oase des Glücks aufgebaut hatten: James Taylor, Buffalo Springfield, The Doors, die Beach Boys, Shuggie Otis, Rickie Lee Jones, Warren Zevon, Tom Waits und eben Joni Mitchell. Dabei interpretiert sie die Songs mit einer recht mutigen Kombination aus Jazz, Blues, Pop und Country.
Leider kommt manche Interpretation live jenen aus dem Album nicht ganz nah. „Riders On The Storm“ etwa fehlt die nötige Weite, die das Original mit der sparsamen Instrumentierung doch ausstrahlt. Auf Bassenges Album hat sie dem Stück noch eine weitere psychedelische Dimension hinzugefügt, eine wirklich geniale Fassung, die live nicht gelingt – was aber auch schwer ist, wenn sie lediglich ein Trio zur Seite hat. Auf dem Album steuern immerhin Künstler wie Till Brönner hypnotische Trompetenläufe bei, Pete Kuzma traumhafte Sounds aus der Hammond Orgel und dem Wurlitzer Piano, Steve Tavaglione anmutige Klänge aus dem EWI und verschiedenen Keyboards. So gesehen war es sicherlich ein Wagnis, das Stück aufzuführen.
Andererseits entschädigten aber zauberhafte Versionen etwa von Stephen Stills‘ „For What It’s Worth“, das er für Buffalo Springfield geschrieben hatte. Ihre Stimme, die von der atmosphärischen Aussagekraft zwischen Rickie Lee Jones und Susan Tedeschi liegt, ist hervorragend geeignet Songs wie „The Last Chance Texaco“ oder „Searching For A Heart“ zu interpretieren. Highlights für mich waren „Angeles“ von Elliott Smith, der übrigens von 1997 ist und gar nicht in die Laurel Canyon-Ära passt, und die Darbietungen der beiden Tom Waits-Songs „All Stripped Down“ und „Blue Skies“. Ihr Album „Canyon Songs“ ist übrigens seit geraumer Zeit ein Dauerbrenner in meinem CD-Player – eine unbedingte Kaufempfehlung!
Gar nicht auszudenken, wie sie geklungen hätten, wenn sie über eine ordentliche Gesangsanlage gesungen hätte. Über den Sound wird sie selbst auch nicht erfreut gewesen sein. Vielleicht war das auch der Grund, warum Lisa Bassenge erst im letzten Drittel des Konzerts wirklich befreit wirkte. Hinreißend: Ihre Zugabe „Lass die Schweinehunde heulen“ aus ihrem Album „Wolke 8“.