Wieder ein Jazzabend der Gegensätze. Im Post Tower Bonn erlebten die Zuschauer die extrovertierte portugiesische Sängerin Maria João, die Lust am Performen und an der Interaktion mit dem Publikum hatte, und den eher in sich gekehrten, wortkargen armenischen Pianisten Tigran Hamasyan. Maria João ist ab dem ersten Ton präsent, bei Tigran Hamasyan dauert es gut eine halbe Stunde, bis er zu sich gefunden hat: Die zweite Hälfte seines Konzertes beeindruckte, in der ersten Hälfte erleben wir einen Musiker auf Sinnsuche.
Von Dylan Cem Akalin
In der 35. Spielminute bekommt Tigran Hamasyan den ersten begeisterten Szenenapplaus. Das Publikum spürt, dass da eine Wende im Konzert eingetreten ist. Plötzlich läuft es. Es ist alles da: eine fließende Dynamik, ideenreiche Spannung, Leidenschaft, Wagnis. Am Ende des Jazzstandards „De-Dah“, das er im Intro erstaunlich nah am Original spielt, bekommt das Trio entsprechend aufgeregten Beifall. Und dann erklärt sich auch das eher schwache Spiel zu Beginn: Bonn, so erklärt der 34-Jährige, sei die erste Station der Tour und das erste Mal, dass das Trio live auftrete.
Matt Brewer (Bass) und Justin Brown (Drums), mit denen er sein aktuelles Album „Stand Art“ eingespielt hat, sind von Anfang an sehr engagiert, treiben Hamasyan stetig mit entschlossenem Spiel an. Brown bekommt ungewöhnlich viele Freiräume, auch immer wieder für kurze Soloeinsätze.
Barocke Schnörkel
Die Bearbeitung der Filmmusik „Laura“ ist geprägt von barocken Schnörkeln, wiederholenden kleinen Motiven und einer an skandinavischen Jazz erinnernde Coolness. Repetition bestimmt auch das Arrangement von „I Don’t Know What Time It Was“. Auch wenn das Piano zu Beginn die rhythmischen und perkussiven Möglichkeiten des Stücks prüft, kommt Hamasyan schließlich im Solopart nicht so recht vom Fleck. Ähnlich verloren wirkt sein Spiel bei „All The Things You Are“. Selbst auf die lyrischen folkloristischen Klanglandschaften, für die er eigentlich bekannt ist, wartet man vergebens. Das ist schade, denn auf seinem Album hören wir diese beiden Standards als völlig neue Interpretationen, die Melodien sind zu abstrakten Formen reduziert, die unregelmäßigen Rhythmen lassen nur noch entfernt erahnen, um was es geht.
Wunderbar dagegen: Das Trio spielt „Softly, As In A Morning Sunrise“ in ständig wechselnden Tempi, während die Melodie zwischen Klavier und Bass weitergegeben wird. Die von Brüchen bestimmte Dynamik wird durch unregelmäßige Abfolgen schneller, plötzliche Linien unterstützt – ein wunderbares Zusammenspiel des Ensembles. Auch Thelonious Monks „Off Minor“ kommt der Eigenart Hamasyans entgegen. Die häufigen Tempowechsel auch bei anderen Stücken des Abends und die gemessenen Beats der Rhythmusgruppe schaffen einen reizvollen Kontrast zwischen Klavier und Bass und Schlagzeug und geben dem Gesamteindruck eine gewisse Erdung.
Maria João ist der Frühling
Es fehlten eigentlich nur die Blüten, die von der Decke aufs Publikum regneten. Für das, was die portugiesische Sängerin Maria João macht, müsste es eigentlich eine eigene Kategorie geben. Die 65-Jährige macht jedes ihrer Projekte zu einem ganz eigenen Kunstwerk. Natürlich, Vokalakrobaten gibt es im Jazz so einige: Al Jarreau war einer, Bobby McFerrin ist für seine gesanglichen Künste bekannt, Youn Sun Nah und Efrat Alony haben auch schon beim Jazzfest Bonn mit ihren außergewöhnlichen stimmlichen Fertigkeiten verblüfft. João verbindet Avantgarde, Modern Jazz, Electronica mit lateinamerikanischer Musik, portugiesischer Folklore und Pop-Elementen. Die Genres und Stile sind für sie Werkzeuge für einen ganz persönlichen Interpretationsstil.
Und die Welt ist eine riesige Spielwiese, ein Jahrmarkt der Möglichkeiten. Bunt, knallig und sonnig. Maria João wirkt auf der Bühne in ihrem bunten Märchenprinzessinnen-Outfit und dem Comic-King Arthur auf der Bluse mit den Puffärmeln wie eine Mischung aus Dorothy Gayle und Alice im Wunderland. Und sie freut sich, sie reißt die Arme hoch, wenn das Publikum voller Elan klatscht, sie tanzt und dreht sich – und ihre Hände sind sowieso immer in Bewegung.
Ihre Songs sind wie kleine Märchen, Erzählungen, manchmal auch Mini-Dramen. Sie singt voller Anmut, Wandelfähigkeit und explosiver Leidenschaft, begleitet von bühnengerechter Körpersprache, Gesten und Tanzbewegungen.
Ein Papagei ohne Wortschatz
Das Intro im Opener „Parrots and Lions“ von Keyboarder João Farinha beginnt in tiefen Frequenzen. Ewig lange scheint der ruhige elektronische Sound zu fließen, zu dem sich die Sängerin wiegt und die Hände graziös bewegt. „Der Klang deiner Eloquenz sind wie Blasen parfümierter Seife“, singt sie. „Und ich bin ein Papagei ohne Wortschatz.“
Von wegen. Maria João singt mal in Englisch, in Französisch oder in ihrer Muttersprache oder in irgendwelchen Fantasie-Mundarten, und das tut sie mit einer schier unendlichen Bandbreite an Höhen und Tiefen, an Farben und Intensitäten, sie lässt die Stimmbände quietschen als würde die Luft aus der auseinandergezogenen Tülle eines Ballons gepresst, sie knarzt wie eine alte Eichentür, sie jubiliert, flüstert, brüllt, knurrt und singt mal glockengleich wie ein Engel oder heiser wie ein alter Fährmann. Zum funkigen Groove ihrer Mitstreiter erklärt sie im Song „Visceral“ freudestrahlend, dass sie weder einen Kick durch Champagner noch durch Kokain braucht. Glaubt man sofort.
„Tenho Um Verdadeiro Amor“
Die Frau hat so viel Energie wie ein Umspannwerk, ist auf eine reizvolle und hingebungsvolle Art verspielt, und ihrer Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt. „Acute Angles“ ist ein modernes Electronic-Stück mit dem perkussiven und kulturübergreifenden Geist von Weather Report. Fette Bässe und ein präsentes Schlagzeugspiel von Silvan Strauß begleiten die Sängerin, die mit heiserem Scatgesang beginnt. Und dazu die passenden Zeilen: „Many eccentricities/Too much disorganization/Chaos and bravery/True pioneering…“ Einfach herrlich.
Selbst wenn sie von „Fiona“ singt, die den Verstand zu verlieren meint, geht es verspielt und für ihre Maßstäbe sanft zu. „Open Your Mouth“ ist ein mit kindlicher Stimme gesungenes Plädoyer, keine Tiere zu töten. Ein französischer Rap-Zwischenteil und nüchterne Rezitationen unterbrechen den Gesangsfluss. „Tenho Um Verdadeiro Amor“ ist ein wunderschönes Liebeslied voller Witz und elektronischer Effekte. Man spürt geradezu die kleinen Flügel an ihren Fußsohlen, die Rosen auf der Zungenspitze und die Ringelblumen in ihrem Haar, von denen sie singt. Maria João war die richtige Künstlerin, um den Frühling zu begrüßen.