Nils Petter Molvaer gehört zu den Jazz-Musikern, die sich nicht gerne in Schubladen stecken lassen. Er gilt als Avantgardist des norwegischen, ja, des europäischen Jazz, als musikalischer Weltenbummler, der keine Grenzen kennt. Er eint den Jazz mit Elektronischer Musik, mit traditionellen Weisen, stets nach neuen Formen des Ausdrucks forschend. Komponieren ist für ihn ein „organischer Prozess“, an dessen Ende die Verschmelzung unterschiedlicher, wenn nicht konträrer Strukturen steht. So gesehen ist Molvaer ein musikalischer Friedensstifter in seiner sehr eigenen schöpferischen Welt. Sein neues Album „Switch“ erscheint am 28. März 2014. Mit dem Norweger sprach Cem Akalin.
Haben Sie heute schon meditiert?
Molvaer: Ähhh, nein. Aber ich weiß, was Sie meinen.
Wenn ich die Musik höre, stelle ich mir einen völlig entspannten Menschen vor, einen Musiker, der alle Zeit der Welt hat. Das ist in heutiger Zeit total ungewöhnlich. Sind Sie so ein ruhiger, gechillter Typ?
Molvaer: Wenn Sie die Leute fragen, die mich kennen, würden die wohl sagen: Nein. Andererseits ist es tatsächlich eine Art von Meditation, wenn du musizierst. Wenn ich meine Trompete spiele, dann befinde ich mich komplett in diesem Augenblick, der die maximale Relevanz hat, auf die man sich einlassen kann.
Ist es vielleicht auch eine Art des Erzählens? Ihre Musik erinnert mich an alte Filme, als sich Regisseure noch die Zeit nahmen, eine Geschichte in Ruhe zu erzählen, die Charaktere des Films in aller Ruhe zu entwickeln.
Molvaer: Wenn Sie das so empfinden, dann nehme ich das als Kompliment (lacht). Im Ernst: Daran habe ich noch nicht gedacht. (Pause) Manchmal ist es wichtiger darüber nachzudenken, was du nicht spielst, als darüber, was du spielst.
Interessant. Miles Davis hat mal gesagt, dass es darauf ankomme, was man in seinem Solo weglässt.
Molvaer: Tatsächlich? Ich sag doch: Miles war ein toller Kerl! (lacht) Aber es stimmt wirklich. In der Welt, in der ich lebe, spielt genau das eine große Rolle. So jemand wie John Coltrane sah das ja völlig anders. Aber für mich ist die Umgebung wichtig – und wann du etwas hinzufügst, wann du deine akustische Linie ziehst. Als Maler benutzt du ja auch einen bestimmten Pinselstrich, um Bewegung darzustellen.
Es gibt eine Menge zu entdecken in Ihrer Musik – wie eben in einem bunten, abstrakten Gemälde, in dem so manches Detail übermalt oder leicht verborgen wird.
Molvaer: Mir ist der kreative Prozess mit den anderen Musikern wichtig, und ich möchte, dass genau das bei den Zuhörern ankommt. Welche Bilder sie in meiner Musik sehen, ist ihre Sache. Ich will sie jedenfalls nicht vorgeben. Es kommt zum Beispiel vor, dass ich mit einem Konzert total unzufrieden bin, und dann kommen Leute auf mich zu und sind völlig begeistert. Dann werde ich ihnen bestimmt nicht sagen: Oh, Mann, das war doch so fürchterlich. Verstehen Sie, was ich meine? Musik ist so abstrakt, dass es jedem viel Raum für seine eigenen Gedanken lässt. Ich habe mal gelesen, dass das menschliche Gehirn bei Musik sehr viel vielschichtiger in Anspruch genommen wird. Das kann ich gut nachvollziehen.
Da fällt mir spontan ein Titel von Tangerine Dream ein: „Journey Through a Burning Brain“. Kennen Sie das?
Molvaer: (lacht) Nein, kenne ich nicht. Aber ein cooler Titel!
Edgar Froese und Sie würden sich sicherlich verstehen. Könnte eine interessante Kollaboration ergeben…
Molvaer: Ich muss zugeben, dass ich mich nicht sehr mit ihm befasst habe. Ich werde das nachholen.
Auf Ihrem neuen Album ist dieses Stück: „Intrusion VII“. Sehr meditativ. Dann lassen Sie auf „Bathroom“ erst mal ordentlich auf die Drums hauen, Sie selbst bleiben aber zunächst sehr zurückhaltend. Und da sind diese irren Sounds Ihrer Trompete, wie aus einer anderen Welt. Das ist wie ein musikalischer Drogenrausch. Sie nehmen doch nicht etwa Drogen?
Molvaer: (Lacht) Nur Kaffee und Rotwein.
Scherz beiseite: Wie gehen Sie bei der Konzeption eines Albums wie „Switch“ vor? Haben Sie eine Grundidee? Haben Sie bestimmte Musiker im Sinn?
Molvaer: Bei diesem Album hatte ich tatsächlich eine Grundidee. Vor allem wollte ich schon seit langem den Sound der Pedal-Steel-Gitarre in meine Musik aufnehmen. Ich war drauf und dran, mir selbst eine Pedal-Steel-Gitarre zu kaufen und sie für Filmmusiken einzusetzen. Hab ich aber nie getan. Schließlich habe ich zu Geir Sundstøl Kontakt aufgenommen. Er ist der wohl meist beschäftigte Gitarrist in Norwegen. Er ist wirklich sehr gefragt. Auch wenn er mehr aus der Rockszene kommt, ist er ungeheuer vielseitig.
Ich habe den Eindruck, dass es da einen konzeptionellen Spannungsbogen gibt. Aber ich glaube, Sie wollen es dem Zuhörer nicht allzu leicht machen. Stimmt’s?
Molvaer: Ich weiß nicht. Ich wollte ein Album machen, das mir wichtig ist und zeigt, wo ich stehe.
Sie haben einige Rätsel darin versteckt. Nicht nur in den Songtiteln. Je öfter ich mir das Album anhöre, desto mehr wird Ihre Liebe zur Musik von Joni Mitchell offensichtlich.
Molvaer: Absolut. Das ist sehr cool. Ich hätte nicht gedacht, dass da einer dahinter kommt. (lacht). Joni Mitchel ist für mich tatsächlich eine der größten Künstler überhaupt. Haben Sie entdeckt, aus welchen Lyrics die Titel sind?
Sie zitieren aus „Amelia“, „The Same Situation“, ich glaube aus „Dreamland“ und „Black Crow“… Da sind aber auch Grundstimmungen in einigen Kompositionen, die an sie erinnern.
Molvaer: Wunderbar! Jetzt bin ich wirklich glücklich!
Ich habe kürzlich mit Robben Ford, der mal in ihrer Band die Gitarre gespielt hat, gefragt, ob Joni Mitchell eine Seelenverwandte sei, und er sagte: Nein, sie ist eine Göttin!
Molvaer: (lacht) Wunderschön! Da ist etwas so Starkes und Reines und Ehrliches in ihrer Musik. Ich habe mal ein Interview mit ihr gelesen, in dem sie über Musik spricht. Das war … wow!
Solch eine Klarheit findet sich in Ihrer Musik auch, Momente von Erhabenheit, andererseits auch dunkle, archaische Atmosphären. Ihre Musik hat sogar gewisse religiöse Momente. Ist das der Einfluss des Großvaters, der Kirchenorganist war?
Molvaer: Ich weiß nicht. (denkt nach)
Sind Sie ein religiöser Mensch?
Molvaer: Ich bin ein überzeugter Atheist. Aber das muss für die Musik nichts bedeuten. Ich schätze die Geheimnisse und Wunder und Schönheiten des Lebens. Und zwar immer mehr, je älter ich werde, desto mehr schätze ich die Natur, ihre vielfältigen Beziehungen. Die Welt ist ein Organismus. Wenn der Wind Saharasand mit all seinen Mineralien und Nährstoffen über den Atlantik bis in den Regenwald trägt und diesen quasi nährt, dann ist das nur ein Beispiel von unglaublichen Zusammenhängen auf der Welt.
Ein gläubiger Mensch würde sagen, das ist der Beweis für den Masterplan Gottes.
Molvaer: Ich glaube nicht an einen Gott, aber daran, dass wir diese Welt schützen müssen.
Apropos Religion: Miles Davis ist für viele ein Gott des Jazz. Ihre erste Band „Masqualero“ war nach einem Stück von seinem Album „Sorcerer“ benannt. Was bedeutet Ihnen Miles?
Molvaer: Eine ganze Menge. Alle seine Perioden waren bedeutsam – selbst die Phase vor „Kind Of Blue“.
Sind Sie ihm mal begegnet?
Molvaer: Leider nicht persönlich. Ich habe Konzerte von ihm gesehen, und ich traf viele, die mit ihm gespielt haben.
Zum Beispiel?
Molvaer: Wayne Shorter traf ich in Japan. Mit Herbie Hancock habe ich ein Projekt gehabt.
Miles hat Sie geprägt. Dieser eher minimalistische Ansatz kommt doch aus seiner Jazz-Philosophie.
Molvaer: Wirklich? (lacht) Im Ernst: Ich kenne eine Menge Musiker, vor allem in den USA, etwa Nicholas Payton, die mehr Miles sind als ich. Man muss das Gesamtbild betrachten: Seine Art der Phrasierung, die Betonungen… Es ist nicht so, dass ich ihn studiert hätte, aber ich habe ihn wirklich viel gehört. Da bleibt sicherlich einiges hängen. Genauso wie von afrikanischer oder Kirchenmusik bei mir hängenbleibt.
Einflüsse der sogenannten Weltmusik sind unüberhörbar.
Molvaer: Das will ich doch hoffen! Mir ist wichtig, nicht in Genres gefangen zu sein. Frei zu sein. Ich bewege mich gerne in allen Kulturen. Ich will nicht darüber nachdenken, ob dies oder das nun Jazz ist oder World oder Folk.
Die Stücke sind teilweise so komplex. Wie funktioniert das live? Wie viel Raum lassen Sie für kreative Spontaneität?
Molvaer: Soviel wie möglich! Das gilt aber auch für den Entstehungsprozess der Stücke. Drummer Erland Dahlen ist zum Beispiel extrem kreativ. Ich arbeite gerne mit einfallsreichen Leuten. Ich greife nur dann ein, wenn es in eine Richtung geht, die mir nicht gefällt. Und dann nur so, dass der kreative Fluss nicht unterbrochen wird. Ich werde gerne überrascht. Das ist das, was eine Band für mich ausmacht.