Das Bundesjazzorchester und das Thomas Quasthoff Quartett haben tatsächlich mehr gemein als auf den ersten Blick vermutet. Auch wenn sie von recht unterschiedlichen Standorten aus genau auf einen Punkt hinsteuern. Sie wollen aufräumen mit Althergebrachtem, Quasthoff beendete seine klassische Karriere vor vier Jahren, um sich befreit dem Jazz zuzuwenden. Und das BuJazzO präsentierte sich am Freitag von einer Seite, die fern aller Schubladen lag.
„Zukunftsmusik“ nennt Bigband-Chef Niels Klein das Programm, das er mit 23 jungen Musikern zur Eröffnung des Jazzfest Bonn im ausverkauften Telekom-Forum in Bonn-Beuel präsentiert. Und das, was das Orchester und das Vokalensemble da an Stücken junger Nachwuchskomponisten darbietet, ist bestimmt alles andere als Standardjazz.
Das Besondere an der Abfolge der Stücke ist, dass sie ein Ganzes ergeben. Die Stücke von jungen Jazzer wie Ruben Giannotti, dessen Stück bezeichnenderweise „Ruine“ heißt, also tatsächlich alte Mauern einreißt, oder Lars Seniuk („Perceptions Of Reality“) lassen sich nicht einordnen in gängige Genres, sie spielen mit den Möglichkeiten des freien Jazz, des Post-Bop bis zum Swing, sie erzählen Geschichten , und dabei geht es ihnen um nicht weniger als die Überwindung von Klischees, um aufsehenerregende Wirkungen des Musikalischen.
Und genauso gehen die Musiker, alle unter 24 Jahren, mit ihren Soli um. Wenn etwa Daniel Roncari mit einer professionellen Unbekümmertheit die Grenzen des Swing und Cool aufbricht und dabei geschickt an großen Altsaxophon-Vorbildern vorbeispielt, ist das ebenso erfrischend wie das ungewöhnliche Duell zwischen den gelassenen Gitarrenläufen von Philipp Schiepek und der wilden Bassperformance von Roger Kintopf. Ebenso große Klasse: das gebrochene, wilde Solo von Saxophonist Fabian Dudek über den wiegenden orchestralen Arrangements bei „Perceptions Of Reality“, die einen an eine bizarre Untergangskappelle auf der Titanic erinnern. Peter Klohmanns Werk „Bouncing B’s“ wiederum lässt Zappas Geschichte von dem irren Musikerheer „The Grand Wazoo“ wach werden, mit blitzartigen Attacken der Hörner und rhythmischen Streitmächten und Daniel Buch am Baritonsaxophon und Victor Fox am Tenor als wahnwitzige Heeresführer.
Es gibt auch ruhige und poetische Momente, wie etwa bei Mike Conrads „The Whole Truth“. Tamara Lukashevas Neuarrangement von Kurt Weills „I’m A Stranger Here Myself“ mit beeindruckendem Gesangspart des Vokalensembles bildet einen der lyrischen Höhepunkte.
Wie gesagt, die Abfolge der Stücke ist brillant gesetzt. Diese Wechsel der Stile, der Harmonik und das Ausschöpfen der musikalischen wie solistischen Bandbreite hätte einem Kamasi Washington sicherlich gefallen. Was als Eröffnung des Jazzfest dargeboten wird, lässt sich am ehesten mit „epischem Jazz“ beschreiben.
Wenn im BuJazzO ungeschliffene Diamanten zum Einsatz kommen, wie bezeichnet man dann Leute wie Dieter Ilg (Bass), Frank Chastenier (Piano) und Wolfgang Haffner (Schlagzeug). Die drei Musiker spielen mit einer solchen Klasse, interagieren geradezu traumwandlerisch, dass es nur perlt und fließt.
Im Mittelpunkt steht aber vor allem der Bassbariton Thomas Quasthoff. Natürlich klingt eine Ballade wie „You Are So Beautiful“ bei ihm völlig anders als bei dem Mann mit der Reibeisenstimme, Joe Cocker. Und auch sein Stimmvolumen, besonders in den tiefen Registern, ist beeindruckend. Ergreifend sind aber besonders diese Klarheit der Stimme in den ganz leisen Passagen, die Fehlerlosigkeit, die Schwerelosigkeit, mit der die Stimme wie auf Schwingen bis in die letzte Ecke des Forums dahingleitet. Wer einmal Ida Sands „Mr Pianoman“ gehört hat, will es eigentlich nie mehr von einem anderen Vokalkünstler serviert bekommen. Seit Freitag gibt es eine Ausnahme: Quastoff krächzt die Töne aus dem Hals, schreit den Refrain wie ein alter Souler und gibt dem Song einen tiefblauen Bluestouch. Und immer wenn man denkt, es geht nicht mehr tiefer, kommt Quasthoff mit dem Schalk in den Augen und setzt einen schier bodenlosen Schlusspunkt.
„In My Solitude“ verbindet der Jazzfan auch am ehesten mit Billie Holiday. Wer anders könnte die Liebeserklärung an die Einsamkeit besser musikalisch verkörpern als Billie? Quasthoff widmet seine Version dem Mann, der eigentlich heute an seiner Stelle auftreten sollen. Roger Cicero hätte die nachdenkliche, ruhige, fast festliche Nummer des Quartetts geliebt. Quasthoff singt sie ganz ohne süßliche Beigaben.
Der Höhepunkt des Konzertes ist eine vokalartistische wie humorvolle Scat-Improvisation des einstigen Klassik-Stars. Mit seinem Stimminstrument erzeugte elektrorhythmische Beats, afrikanische und indianische Gesangsfetzen fügt Quastoff zu halsbrecherischen Collagen zusammen. Die Klänge und Geräusche, die er da selbst spontan kreiert, klingen wie am Schneidetisch zusammengefügte Soundschnipsel aus Alltag, Industrie und Computern. Dazwischen fallen absurde Wort- und Satzteile („Alles intellektuell“, „Heute ist Tag des Bieres“). Nicht nur er selbst scheint großes Gefallen an diesem freien Ausbruch zu haben, das Publikum spendet begeistert Applaus. Den Kommentar lässt Quastoff, der in seiner Jugendzeit auch als Stimmenimitator arbeitete, von Altkanzler Helmut Kohl sprechen: „Das Bonner Publikum hat wohl einen außergewöhnlichen Geschmack.“ Und es liebt die Drahtseilakte von Jazzmusikern. Und die bekam es an diesem Abend geboten.