Das ist er also. Der Komponist und Saxofonist Marius Neset, den das renommierte amerikanische Musikmagazin Downbeat als einzigen Europäer auf die Liste der 25 Hoffnungsträger des Jazz gesetzt hat und den in Kopenhagen lebenden Norweger als einen der „aufregendsten Künstler des Jazz“ bezeichnet. Und was soll ich sagen? Die amerikanischen Musikkritiker haben Recht. Neset beschließt als 21. Konzert am Samstagabend das Jazzfest 2017 in der Bonner Bundeskunsthalle.
Von Dylan Cem Akalin
Der Mann ist groß, der Hals kräftig wie bei einem Hochleistungssportler, der Körper angespannt, wie kurz vor dem Sprint. Wie als Weckruf startet das Quartett, zu dem noch Dan Nicholls (Piano), Phil Donkin (Bass) und Joshua Blackmore (Schlagzeug) gehören, mit einer Kakophonie atonaler Wirbel, um sogleich das Thema anzuspielen. Neset lässt sein Tenor fließen wie einst Michael Brecker, wechselt dann nach einem Break zum Sopran und beginnt ein melodiöses Spiel, das von der Grundstimmung an Wayne Shorters Spiel bei Weather Reports „In a Silent Way“ erinnert, aber immer mehr in eine Art Klezmer kippt, das Tempo wird stetig angezogen, Nesets Improvisationen treiben wie Kugel in einem Flipperautomaten hin- und her: Das ist „Pinball“ vom gleichnamigen Album.
Marius Neset, der Jazzer, der alles wagt
Als Neset nach mehr als einer Stunde vor der Halle steht und seine Alben signiert, steht ein Teenager vor dem Musiker und bedankt sich überschwänglich für die Musik und die Erkenntnisse, die der junge Mann offenbar aus dem Konzert gewonnen hat. Aber das ist ja auch völlig verständlich, denn Neset spielt einen Jazz, der trotz des anspruchsvollen Niveaus viele Generationen anspricht. Die Älteren, weil es viel zu entdecken gibt, weil Erinnerungen wach werden, die der Norweger mit einer neuen Sprache erzählt, voller Eigenständigkeit, voller Spannung. Die Jüngeren, weil er ständig auf einem Drahtseil steht, weil er alles wagt, alle Freiheiten mit einer Wildheit auskostet, die Sehnsüchte entfachtet.
Neset hat die polyglotte Kultur des Jazz verinnerlicht, er ist einer, der die ganz eigenen musikalischen Verständigungsmechanismen von Künstlern wie Stan Getz, Lester Young, Michael Brecker, Wayne Shorter oder Charlie Parker feinfühlig in sich aufgenommen hat, wie ein Genie, der vierzehn Sprachen perfekt beherrscht, die Kulturen von mehr als einem Dutzend Zivilisationen versteht, und daraus seine persönliche Muttersprache kreiert. Neset zuzuhören ist, wie einem Redner, der mühelos ständig wechselt ins Japanische, Griechische, Französische, in jede beliebige Sprache oder seltenen Dialekt. Und die Band folgt ihm dabei problemlos, wechselt Rhythmik und Harmonik, manchmal mehrmals im Solo.
Die Kompositionen von Marius Neset sind bestimmt vom Moment der Überraschung, von der Induktion des Möglichen: soviel komponierte Vorgabe wie nötig, so viel Raum für Spontaneität wie möglich. Die Grenzen zwischen dem geschriebenen Wort und der freien Rede verschwimmen häufig, und so spricht der Titel „Theatre of Magic“ Bände. „Aberhonddu“, der walisische Name für den kleinen Ort Brecon, verschafft dem Publikum etwas Verschnaufpause mit einem geradezu verträumten Saxofon.
Eine sagenhafte Darbietung
Aber schon bei „World Song“ zieht er wieder alle technischen Register: Er steht allein mit seinem Saxofon auf der Bühne und spielt so sachte, dass man bis in die letzten Reihen das Schließen der Klappen an seinem Instrument hören kann. Nachdem das Piano perkussiv einsteigt, entwickelt sich ein lateinamerikanischer Tanz, der in eine wilde post-bopige Ekstase mündet, am Ende eine Melodie ausbildet und plötzlich vom Piano in eine kindliche Spieluhr gepackt wird. Nach einem ausgiebigen Drumsolo, das insbesondere die Becken klingen lässt, steigt Neset wieder ein und zelebriert den von ihm verehrten Michael Brecker. Eine sagenhafte Darbietung für Phantasos!
Neset präsentiert das noch nicht veröffentlichte „Prags Ballett“, eine Auftragsarbeit für die Kölner Philharmonie, den schwindelerregenden „Summer Dance“ und als Zugabe das am Blues orientierte Stück „Jaguar“. Rasender Applaus.