Verschollen und wieder ausgegraben: Getz At The Gate: The Stan Getz Quartet

Stan Getz FOTO: Verve (Universal Music)

Bislang unveröffentlichte Live-Aufnahme von Stan Getz am New Yorker Village Gate mit Pianist Steve Kuhn, Bassist John Neves und Schlagzeuger Roy Haynes

Getz At The Gate: The Stan Getz Quartet
Live At The Village Gate, Nov. 26, 1961
Label: Verve (Universal Music)

Dieser Auftritt von Stan Getz am 26. November 1961 im Village Gate wurde eigentlich für eine Albumveröffentlichung aufgenommen. Es kam nicht mehr dazu. Der amerikanische Tenorsaxophonist hatte unbeabsichtigt einen Bossa Nova-Boom aufgelöst. Da landete die Aufnahme in der Schublade – und wurde vergessen. „The Girl From Ipanema“ hatte alles andere beiseitegeschoben. Jetzt ist dieser  Schatz wieder ausgegraben.

Von Dylan Cem Akalin

Das Stan Getz Quartett mit Pianist Steve Kuhn, Bassist John Neves und Schlagzeuger Roy Haynes gehörte damals in New York zur coolsten Band der Szene. Kraftvoll, frisch, wegweisend. Und doch gilt 1962 als Durchbruchjahr für den Tenorsaxophonisten Stan Getz, in dem er den brasilianischen Bossa Nova-Sound mit dem Gitarristen Charlie Byrd auf Jazz Samba erfolgreich in den Mainstream brachte.

1961 hingegen hat es trotz zweier starker Alben nicht mehr als zu einer Art Fußnote in seiner Musikgeschichte gebrach: Da war vor allem „Focus“ einem Streicherensemble unter der Leitung von Hershy Kay und mit Arrangements und Kompositionen von Eddie Sauter,  den Getz schon lange verehrte. Und  da war „Recorded Fall 1961“ mit seinem alten Freund, dem Ventilposaunisten Bob Brookmeyer. Jetzt ist ein weiterer wichtiger Bestandteil seiner Diskografie von 1961 hinzugekommen: die Doppel-CD „Getz at the Gate“.

Über allem der Coltrane-Geist

„When The Sun Comes Out“ hat so viel Schmelz im Saxophon, dass man Getz Atem spürt. Das ist aber eines der Ausnahmen. Gerade aus Europa zurückgekehrt, hatte Getz nämlich dieses Quartett zusammengestellt, um einen etwas moderneren und aggressiveren Sound zu kreieren. Und da passte Steve Kuhn gut dazu. Er hatte erst vor kurzem seine Kollaboration mit John Coltranes Quartett beendet, und brachte viel von diesem Coltrane-Geist mit in die Band.

Doch dann kam Getz was anderes „in die Quere“:  1962 veröffentlichte er „Jazz Samba“ mit dem Gitarristen Charlie Byrd und löste damit den Bossa Nova-Boom aus. Es folgte das groovigere „Jazz Samba Encore!“ (1963) Album mit Luiz Bonfá und „Getz / Gilberto“ (1964) mit dem brasilianischen Gitarristen João Gilberto, der 1965 die Grammy-Platte des Jahres „The Girl from Ipanema“ veröffentlichte. Dieser Hit bestimmte den Verlauf von Getz‘ Karriere für die nächsten Jahre.

Was für eine Leidenschaft

Wer weiß, vielleicht wäre sein Werdegang anders verlaufen, wenn er „Getz at The Gate“ tatsächlich veröffentlicht hätte. Abgesehen von einigen Stücken, die Getz in den 50er Jahren aufgenommen hat (darunter „When the Sun Comes Out“, „Like Someone in Love“ und „Spring Can Really Hang You Up The Most“), bietet Getz at The Gate auch die einzig bekannte Getz ‚Aufnahmen von „It’s All Right with Me“ und „Yesterday’s Gardenias“. Die gesamte emotionale Bandbreite von Getz‘ Spielen ist zu sehen, mit seinen schnellen Refrains zu „Airegin“ und seiner leidenschaftlichen Lektüre von „Where Do You Go?“, eine Dokumentation der beiden Pole seines Genies.

Übrigens: Nicht irritieren lassen. An einer Stelle kündigt Getz die Miles Davis-Komposition „So What“  an. Was dann aber folgt, ist eindeutig John Coltranes „Impressions“. Miles Davis teilt zwar eine Akkordsequenz mit diesem Stück. Tatsächlich wurden aber sowohl „So What“ als auch „Impressions“ von der Melodie von Morton Goulds „Pavanne“ inspiriert.

Mischung aus Lyrik und Energie

Für die Musikgeschichte ist das Album von gewisser Bedeutung. Denn Stan Getz‘ Bedeutung für den Jazz zu Beginn der 60er Jahre war nie hinreichend belegt. Schließlich war er drei Jahre lang in Europa gewesen und gerade wieder in die Staaten zurückgekehrt. In den 80er Jahren tauchten mal einzelne Aufnahmen auf, die zeigten, auf welchem brillanten Weg der Tenorsaxofonist war. Mit der nun vorliegenden Aufnahme bestätigt sich diese Vermutung: Getz präsentiert uns hier eine fantastische Mischung aus Lyrik und Energie. Und es wird immer klarer, warum John Coltrane den Mann so liebte und einmal sagte: „Wir würden alle wie Stan Getz spielen, wenn wir könnten.“

Es war der Bassist Scott LaFaro, der Getz drei Jahre zuvor auf Kuhn aufmerksam gemacht hatte. Kuhn arbeitete da in New York mit dem Trompeter Kenny Dorham zusammen und wechselte dann zu John Coltrane, während dieser noch auf die Verfügbarkeit von McCoy Tyner wartete. Leider starb LaFaro kurze Zeit nachdem Getz die Band zusammenstellte bei einem Autounfall.

Wie Bob Blumenthal in den sehr lesenswerten Linernotes schreibt, setzte Getz dann den Bassisten John Neves  und Louis Haynes am Schlagzeug ein. Neves war eine Hauptstütze sowohl des Herb Pomeroy Quintetts als auch von George Shearing und Maynard Ferguson. Wie Haynes und Kuhn war Neves ein Bostoner und hatte sowohl mit dem Schlagzeuger als auch mit dem Pianisten getrennt gearbeitet, was ihn zu einem idealen Ersatz für LaFaro machte. Dies ist das Trio, das Getz und Brookmeyer auf dem Album „Recorded Fall 1961“ begleitete.

Spiellust und Feuer

Das vorliegende Album ist wirklich voller Energie, voll Spiellust und Feuer, das manche überraschen wird, die Getz immer nur als Inbegriff des Cool-Jazz gesehen haben.

Wir hören Gigi Bryces „Wildwood“, das Getz 1951 schon mal mit Haynes am Schlagzeug aufgenommen hat, eine adrette, luftige Version. Klasse auch die halsbrecherische Auseinandersetzung mit Sonny Rollins ‚“Airegin“ oder das schon erwähnte rauchige, launische „When the Sun Comes Out“, das zum festen Repertoire seiner Europa-Konzerte gehörte, so wie auch Johnny Burkes und Jimmy Van Heusens hell swingendes „Like Someone in Love“ und Tommy Wolfs und Fran Landesmans‘  „Spring Can Really Hang You Up the Most“.

Der Einfluss von Lester Young

Rasant und begeisternd „Woody ’N You“ von Dizzy Gillespie. Die Getz-Komposition „Blues“  lässt keinen Zweifel an der improvisatorischen Kompetenz der Gruppe. Die zarte Ballade „Where Do You Go?“ zeigt die seelenvolle Seite der Band. Roy Haynes glänzt so wie die anderen Solisten bei „Stella by Starlight“. Und Getz lässt seinen Mitspielern wirklich reichlich Raum für ihre Einzeldarstellungen. So wie Kuhn etwa auf „Yesterday’s Gardenias“, oder Haynes auf Thelonious Monks „52nd Street Theme“. Die grandiose Zugabe „Jumpin ‚with Symphony Sid“, eine Hommage an Getz‘ Einfluss Lester Young, ist eines der längsten Stücke auf der Aufnahme und zeigt, wie gut Getz den entspannten Swing-Stil des großartiges Lester Youngfs zu seinem eigenen machen konnte. Ein tolles Album! Eine echte Entdeckung.