Von Dylan Cem Akalin
Da ist dieser eine perfekte Moment, den man am liebsten immer und immer wieder zurückspulen und wieder hören möchte. Die Bearbeitung von „Rufe in der horchenden Nacht“ von Paul Hindemith ist solch ein Stück, das sich langsam aufbaut, das erst die Ohren strapaziert, wenn Schlagzeuger Eric Schaefer seine Becken mit dem Bogen bearbeitet und die hohen, schrillen, metallenen Töne erzeugt und gemeinsam mit dem Schweizer Kontrabassisten Christian Weber Michael Wollny antreibt. Bedrohlich bauen sich die Drums auf, wie Gewitterwolken türmen sich die Widerhalle von Trommeln und Becken auf, während das Piano sich wie im freien Fall in eine einsilbige Melancholie stürzt. Und dann ist er da, der magische Augenblick, wenn der Bass die Klavierfolgen fast tröstend bei der Hand nimmt und das sensible Beckenspiel, mit unterschiedlichen Klöppeln geschlagen, den beiden einen sanften Weg bereitet.
Nur diese eine kleine Zeitspanne reichte schon, um diesen Auftritt des wunderbaren Trios von Michael Wollny in der Bonner Oper am Sonntagabend zur Eröffnung des Jazzfest Bonn zu feiern. Aber es gab natürlich noch mehr exquisite Passagen, die das Publikum teils sehr engagiert beklatschte.
Es ist nicht nur die sympathische Persönlichkeit des scheinbar ewig jungen Pianisten, der mit 43 Jahren längst zur etablierten Jazzelite Europas zählt. Wenn er sich mit seinem eigenwilligen, unbändigen Pony über die Klaviatur beugt, wenn er beim Spielen ein Bein anzieht, als müsste er einen Akkord oder eine Tonfolge körperlich erarbeiten, wenn er in sich gekehrt verträumte Sequenzen oder angriffslustige, rhythmische Figuren aus den Saiten des Flügels schlägt, dann wirkt er immer noch wie der junge Wollny, der selbst noch ganz erstaunt ist über die Möglichkeiten seines Instruments. Und genau diese Neugier und Freude an neuen Wegen, gekoppelt mit einer intensiven, innigen Energie, die zwischen den drei Musikern herrscht, ist es, die das Publikum spürt und die einen Auftritt dieses Trios zu einer Besonderheit macht.
Das zweiminütige Piano-Intro beim Opener „Der Wanderer“ und das empathische Einsetzen der beiden Freunde ließen schon früh erkennen, was für eine Gemeinschaft da vorne auf der Bühne agiert. War der Start zunächst noch relativ konventionell, so schaltete Wollny doch recht stark um in den intelligenten Stehgreifkomponisten, der die Grenzen der 88 Tasten deutlich ausweitet, indem er den Korpus, die Saiten direkt bearbeitet, Gegenstände zum Dämpfen oder Rasseln auflegt und dergleichen. In einem Augenblick lässt er die Töne wie an der Perlenschnur moussieren, dann wischt er sie mit flüchtigen Bewegungen wie ein Maler weg, offenbart unter der Struktur neue Farbschichten, die plötzlich neue Wendungen im Geschehen ermöglichen. Das alles geschieht in einem fließenden Ablauf, bei dem der Bass mal die Führung übernimmt, das Schlagzeug mit rockiger oder gar punkiger Attitüde expressionistische Wucht entfaltet – so wie in der Bearbeitung von Alban Bergs „Nacht“. Da ist vom Ursprungswerk nur noch die Grundidee vorhanden, alles Andere hat Wollny ausgeforscht, in völlig neue harmonische Zusammenhänge gegliedert und zu einer frischen Erfahrung ausgebaut. Der Übergang von experimentellen Gefilden, aus denen wilde, hämmernde Akkorde eine Metamorphose zu einem fast Bach’schen kleinen Feuerwerk erfahren, ist bei „Phlegma Phighter“ besonders gelungen.
Wir hören ein wenig schwermütige, doch leichtfüßige skandinavische Folkthemen, die in kakophonische Detonationen strudeln, Referenzen an E.S.T., aber auch Lyle Mays mit glasklaren, gestenreichen, melodischen Bögen, feurige Akkordtänze und am Ende mit „Gorilla Biscuits“ einen geradezu nervenzerreißenden Flug durch eine musikalische Landschaft voller überraschender Wendungen, Unwägbarkeiten, plötzliche Kurswechsel mit allen möglichen Höhen und Tiefen und Tempi. Mit sagenhaft langen Breaks und einem fulminant gesetzten Schlusspunkt steht am Ende das Publikum und bricht in tosenden Applaus aus. „Das haben wir vermisst“, sagt ein sichtbar glücklicher Michael Wollny. Zur Zugabe gibt es die wunderschöne Ballade „Little Person“, ein Song von Jon Brion und Charlie Kaufman aus dem Film „Synecdoche, New York“, sowas wie die zärtliche Entdeckung der Langsamkeit für den Nachhauseweg.