Tocotronic werden am Freitagabend auf dem KunstRasen Bonn von Lied zu Lied besser. Sie hörten praktisch auf, als sie am besten waren.
Von Dylan Cem Akalin
Wenn es etwas zu kritisieren gibt an diesem Konzert unter grauem verregneten Himmel, dann ist es nicht mal das „Schietwetter“, das die Hamburger mitgebracht haben, sondern, dass es eine musikalische Tour d’horizon war, die leider viel zu früh aufhörte. Klar, man vergisst schnell, dass es diese Band schon seit 1993 gibt. Die Setlist bestand vor allem aus Stücken der Frühphase: alle aus der Zeit zwischen 1993 und 2003, beginnend mit drei „Songs zu Hass, Freundschaft und Liebe“, wie Frontmann Dirk von Lowtzow nach dem Intro („Rittertanz“ von Sergei Prokofiev) ankündigte: „Freiburg“, „Digital ist besser“ und das wie ein wilder Neil Young-Song beginnende Lied „Drüben auf dem Hügel“. Die Gitarren verzerrt, laut und stürmisch zum ruhigen Gesang.
„Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ ist eine Ballade, die auch Leonard Cohen hätte gut singen können. Bei „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“ rasselt und rumpelt es wie bei einem guten Garage Rock-Song, dazu die Protestsong-Attitüde über eine aussichtslose Lage.
Spuren von Ironie
Die Melancholie der Hamburger entstammt aus einem sepia-colorierten Independent Rock, der von verdreckten, strukturierten tiefen Rhythmen zusammengehalten wird. Da gibt es eine gewisse Verwandtschaft zur Düsterkeit von Wilco oder Giant Sand, aber auch zum Stoner Rock, der hier freilich mehr von der grauen Monotonie der niedersächsischen Landschaft geprägt ist als von heißen Wüstenebenen.
Wo jene sich den Mitteln des Americana oder Country als Wurzel ihrer eigenen Geschichte bedienen, sind Tocotronic eindeutig Kinder jener Hamburger Szene, die eine neue Innerlichkeit entwickelt hat, persönliche Beobachtungen der Welt mit dem eigenen soziokulturellen Milieu der Clubs und Studentenszene in Einklang bringt. So entstehen Texte voller Poesie, aber auch Inhalten, die sich nicht selten an Eingeweihte richtet. Doch die klagenden Lieder tragen durchaus Spuren von Ironie in sich und sind ohnehin gut tanzbar. Wahrscheinlich können nur in solch einem Lebenskreis Lieder wie „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ entstehen.
Dirk von Lowtzow in grauem Strickpulli
Das alles bewegt sich innerhalb einer Musik voller scheppernder Gitarren, in der Ostinati und Legatospiel prägende Elemente sind, die immer wieder auftauchen. Drüber singt mit nölender, fast einstufiger Stimme Dirk von Lowtzow, der mit seinem ausgeleierten Strickpulli aussieht, als sei er grad vom WG-Küchentisch zur Bühne gegangen, er ist ein Sänger mit seufzender Haltung.
Wir leben ja in einer Gesellschaft, die ein bestimmtes Maß an Distanziertheit nötig macht. Und es ist genau diese Art von Gleichgültigkeit, die Tocotronic ins Wanken bringt. Mit „Nach Bahrenfeld im Bus“ gibt es eine Zäsur an diesem Abend. Mit diesem Song wird plötzlich alles anders. Spätestens jetzt hat die Band das Publikum in seinen Bann gezogen. Es ist ein Stück, das diese weitschweifigen Gelassenheit eines Wim Wender-Films hat, das an einen deutschen Roadmovie a la „Im Lauf der Zeit“ erinnert mit bestürzend schönen und eindringlichen Bildern von großer Poesie, und wenn der Bruch so plötzlich kommt mit diesem Brüllen archaischer Gitarren, dann gibt das einen Moment von Glücksgefühlen. In der Nacht. Mit Blick auf die blaubeleuchtete Bühne. Während man mit den durchnässten Schuhen in der Pfütze steht.
Rick McPhail ist der Held der Stunde
Rick McPhail ist der Held der Stunde, wie er stoisch seine Gitarre spielt und die tollsten Soundwolken und –flächen produziert. Und was ist das für eine hypnotische Mundharmonika zu den Rückkopplungen der Gitarre auf „Sie wollen uns erzählen“?
Dirk von Lowtzow überrascht uns mit einem Gesang in sehr tiefer Tonlage bei „Die neue Seltsamkeit“. „Jackpot“ aus dem Album K.O.O.K. „Kommt mit deutlich weniger Text, dafür von Herzen“, sagt der Sänger und die Gitarrenhooks kommen mit richtig viel Sustain. Überhaupt werden der Sound und die Arrangements zum Ende hin immer dichter. Die Gitarren bei „Die Grenzen des guten Geschmacks 2“ sind richtig fett und präsent. Und dann setzen „Jenseits des Kanals“ und „Das Geschenk“ so unglaubliche Schlusspunkte im offiziellen Set. Der Gesang bei „Geschenk“ setzt erst nach einem vierminütigen instrumentalen Einstieg ein. Die ruhig dahinfließenden Gitarren zur Marching Drum entfalten immer mehr psychedelische Wirkung. Und der Text kündigt den Schluss des Konzertereignisses an: „Man gab mir soeben/Das Geschenk meines Lebens/Das Wissen von einem Ende der Nacht“.
„This Boy Is Tocotronic“
Von wegen: Zur Zugabe gibt es noch „This Boy Is Tocotronic“, „Hi Freaks“, „Neues vom Trickser“, „Hoffnung“ und „Letztes Jahr im Sommer“. Ein toller Abschluss der KunstRasen-Reihe. FRONTM3N ist in die Harmonie Bonn verlegt. Die Truppe spielet am 30.08.2021, ab 19 Uhr, in Clubatmosphäre.