Von Dylan C. Akalin
Eigentlich sollte ich ja mittlerweile darauf vorbereitet sein, dass die Menge im Palladium Köln geradezu in einen ekstatischen Jubel ausbricht, sobald die Band die Bühne betritt. Und bei jedem ans Publikum gerichtete Wort von Sänger Matty Healy sowieso. „Thank you.“ Kreisch! Als ich The 1975 vor zehn Jahren zum ersten Mal live erlebte, war ich überrascht, weil die britische Band damals noch weitgehend unbekannt war und bereits eine überaus beeindruckende Fanbase hatte, die jeden Song mitschmetterte. Das ist bis heute so geblieben.
Was indes immer noch etwas verstörend wirkt, ist, wie die Masse zu den ziemlich gedankenvollen und metaphernreichen, durchaus intelligenten Texten über Drogen- und Medikamentenmissbrauch, über kaputte Beziehungen, Missbrauch und Gewalt, lacht und mitsingt, als ginge es um Liebe in einer heilen Welt.
Dabei gibt es die im Gefühls- und Gedankenkosmos eines Matty Healy kaum. Und so sehr die Musik bisweilen auch die Unbeschwertheit eines Synthie-Pop aus den 80er Jahren in sich trägt, so täuscht sie doch darüber hinweg, dass es Healy und seiner Band in ihren Texten eher darum geht, hinter die Fassaden zu blicken, die Hochglanzmagazine von Schönheit, Ruhm und einer von Sorglosigkeit geprägten Blase vermitteln.
Konzeptionelle Show
Die Shows von The 1975 sind wohldurchdachte, einem Konzept folgende Inszenierungen. Das ist auch jetzt auf der „At Their Very Best“-Tour nicht anders, die fast an ihrem Ende steht. In Köln weicht die Band ein wenig vom bisherigen Ablauf ab, und so hören die Fans im ausverkauften Palladium teilweise Songs, die die Band schon seit vielen Jahren nicht mehr live performt hat.
Als die Bühnenarbeiter mit den weißen Kitteln wie Laboranten den schwarzen Vorhang entfernen, muss ich sofort an die Rust Never Sleeps-Tour (1978) und die Psychedelic Pills Tour (2012) von Neil Young denken, der auch solche Bühnenkräfte eingesetzt hatte. Die Bühne besteht aus zwei Ebenen und wirkt wie eine Londoner Theater-Kulisse eines Stücks, das in einem Vorort spielt. Alte Möbel, viele kleine Lampenschirme, das dumpfe Licht dringt von außen durch die Lamellen der Fenster, überall stehen alte Röhrenfernseher (wie bei Neil Young!). Die Musiker sind über die beiden Ebenen verteilt, der Keyboarder muss, soweit ich das von meinem Platz aus erkennen kann, immer wieder zum jeweiligen Tasteninstrument im Raum wandern, das er für bestimmte Sounds braucht.
George Daniel sitzt hinter seinem Schlagzeug im oberen Foyer des Hauses. Adam Hann spielt im Wohnzimmer E-Gitarre, und die etlichen Tourmusiker, die die Band für ihre breiten Sounds dabeihat, stehen bisweilen auf der oberen Ebene. Nur Frontmann Matty Healy bewegt sich frei im Raum.
Die Songs sind eingebettet in eine Art Drama in drei Akten. Zu Beginn der Tour, die Ende 2022 startete, stellte Healy noch einen rohen Charakter dar, der Unmengen von Fleisch aß, rauchte, trank, seine Muskeln vor der Glotze trainierte. Außerdem lud er seine Fans ein, zu ihm auf die Bühne zu kommen und ihn zu küssen. Von Kritikern bejubelt, aber von vielen Kontroversen in den sozialen Medien begleitet, hat er diesen Teil der Inszenierung gestrichen, mit der er demonstrieren wollte, wie leicht es ist, trotz miesen Charakters noch Applaus und Zuwendung zu bekommen – wenn man nur ein Popstar ist.
Soundästhetik der 1980er
Es ist klar, was die Band will. Sie präsentiert ihre Songs mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie in deinem Wohnzimmer sitzen. Weg sind die aufwendigen Licht- und Bühneninstallationen und Effekte auf den riesigen Leinwänden. Stattdessen ist alles wie in einen diffusen Nebel gehüllt, als müsstest du selbst den Sinn der Songs enthüllen. Bisweilen flirren die TV-Bildschirme in bunten Farben, grelle Pink-, Gelb- und Blautöne tauchen die Bühne in eine falsche Barbiewelt. Denn die Musik ist eigentlich nur Tarnung. Sie und Healys so sanfter Gesang sind trügerisch. Mich erinnert die Musik mehr an den Stil von Scritti Politti, selbst Healys Gesang könnte gelegentlich von Green Gartside sein – vor allem bei „Anobrain“. Die Band nutzt die Klangästhetik von Bands wie Tears For Fears, Peter Gabriel, Depeche Mode oder Talking Heads, um, wie ich finde, teilweise mit einer brutalen Offenheit über persönliche Erfahrungen mit Drogencocktails, kaputte Beziehungen und psychische Probleme zu singen. Liebe besteht nicht nur aus Romantik, sondern auch aus Trennung, Herzschmerz, psychischer und physischer Gewalt („Robbers“). Dabei arbeitet Healy, der wohl die meisten Lyrics schreibt, mit vielen Metaphern. So wie bei dem Opener, einer lauten und krachenden Version von „The City“, in der nicht nur eine Szene von einer von Drogen bestimmten Beziehung erzählt wird, sondern es geht auch um Selbstfindung von Teenagern, wobei die „Stadt“ für einen Ort steht, an dem man leicht die Liebe findet, weil sie voller aufstrebender junger Menschen ist. „City“ kommt in den Texten immer wieder als Schauplatz vor, wenn der Protagonist seinem früheren Leben entfliehen möchte.
Die Band reflektiert oft über das Erwachsenwerden, die Suche nach Identität und die Herausforderungen, die mit dem Jungsein verbunden sind. Dabei geht es häufig auch um den Einfluss von sozialen Medien, aber auch von Alkohol- und Drogenmissbrauch auf zwischenmenschliche Beziehungen wie in „Medicine“, in das die Band noch Teile aus „It’s Not Living (If It’ s Not With You)“ integriert, oder „Anobrain“, in dem das Paar überlegt, ihre MDMA-Bomben vor 2 Uhr morgens zu nehmen, um bis dahin die volle Wirkung zu erzielen. In „Milk“, dem zweiten Song auf dem Konzert, geht es um die Kokainsucht eines Mädchens.
The 1975 scheuen sich nicht, sich in ihren Songs mit sozialen und politischen Themen wie Umweltbewusstsein, Mental Health, Sexualität und anderen gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Ihr Einsatz für die Freiheit und Anerkennung etwa der LGBTQ-Bewegung hat ihnen schon Probleme und Knast in Dubai und Malaysia gebracht.
Von Leben und Tod
Die Songs handeln von Selbstreflexion und Existenzialismus, von Leben, Sterblichkeit und der Bedeutung des Seins – und das mit eingängigen Melodien und einem ziemlich breiten und fetten Sound, der Elemente aus Pop, Rock, Elektronik und anderen Genres vereint. So wie „Oh Caroline“, das die Menge tanzend mitgrölt – in dem es um Suizidgedanken geht. Irgendwie verwirrend und beklemmend. So wie die funky Rhythmen bei „A Change of Heart“.
„I Always Wanna Die (Sometimes)“ wiederum ist ein Appell, seinen starken Emotionen auch zu misstrauen, weil sie die Gedanken und das Selbstbild verzerren können. „Menswear“ kündigt sich mit fettem Synthie-Sound, der nach Waldhörnern klingt, an. In dem Song geht es um eine ziemlich misslungene Hochzeit seines Freundes, in der sich sowohl das Brautpaar als auch der Trauzeuge zudröhnen. „About You“ ist eine musikalische Fortsetzung von „Robbers“, in der Matty über eine vergangene Liebe reflektiert. Dabei stehen die Musiker nur wie Schatten auf der Bühne, der Sound des Stückes hat etwas von Bowie. Er geht über ins Instrumental „28“, Saxofon getrieben schraubt sich der Song ziemlich rockig in ungeahnte Höhen – bis Healy am Ende in einem halb ausgeräumten Haus sitzt, nur mit der Akustikgitarre, und die schöne Ballade „Then Because She Goes“ singt. Zusammen mit dem ironisch gemeinten „Jesus Christ 2005 God Bless America“ gehört er zum zweiten Akt der Show. Der Song besingt aus der Perspektive von LGBTQI-Personen die Diskrepanz zwischen ihren Handlungen und den Lehren der Kirche. Ihr Glaube hindert sie daran, ihre wahren Gefühle und Wünsche auszudrücken.
Der dritte Akt besteht aus „If You’re Too Shy (Let Me Know)“ mit einem dramatischen Piano, den von fetten Bässen geprägten „Bagsy Not in Net“, dem eher belanglosen Tanzstück „It’s Not Living (If It’s Not With You)“, „Frail State of Mind“ mit einer geilen Gitarre, die von Adrian Belew stammen könnte. „Lostmyhead“, das das Publikum frenetisch feiert, grün, blau und rot leuchtet die Bühne bei „Love It If We Made It“, die Melodie von „Sex“ wirkt dahingemurmelt, orange strahlen die TV-Bildschirme zum Abschlusssong „Give Yourself a Try“. Eine fantastische Show – die ich gerne in einer anderen Halle gesehen hätte. Denn der Sound war nicht überall so gut wie im vorderen Drittel des Innenraums, wo ich zu Beginn war, und die Sicht von den Seitensträngen und hinten ist einfach eine Frechheit. Aber das weiß man ja vom Palladium Köln.