„The Thrill of It All“ hat den rohen Rock’n’Roll des jungen Bruce Springsteen und die rotzige Lebensfreude einer Patti Smith. Mitch Ryder hat ihn 1983 erstmals aufgenommen. Wenn er ihn heute singt, dann nimmt er vielleicht eine Spur vom Tempo raus, aber die Hingabe ist dieselbe wie vor 37 Jahren. Was für ein Opener – gleich mit solch einem Statement auf die Bühne zu kommen: „Es ist alles in Ordnung/wenn du keine Schmerzen hast/es ist alles in Ordnung/du wirst es wieder tun/bis dein Herz bricht…“ Und das wird er wohl, jedes Jahr im Frühjahr kommen bis es nicht mehr geht.
Natürlich, von diesem kraftstrotzenden, genialen Rüpel von damals, als wir ihn 1979 beim Rockpalast erlebt haben und uns nur noch der Mund offenstehen blieb, ist heute nichts mehr da. Aber die Kraft, die Mitch Ryder, der gerade seinen 75. Geburtstag feierte, die saugt der Mann mit der Sonnenbrille und dem schwarzen Hut da vorne auf der Bühne heute ganz offensichtlich aus anderen Quellen.
Sprudel statt Alkohol
Zum Beispiel aus Rheinfels-Sprudelwasser, aus dem er den Diesel der Rheinschiffe zu schmecken meint, wie er amüsiert bemerkt. „Alkohol ist doch was für Babys“, sagt er breit grinsend. Mitch Ryders Auftritt an diesem Sonntagabend ist eines seiner coolsten der vergangenen Jahre.
Im vergangenen Jahr haben wir ihn ja schon so gut gelaunt und praktisch mit Dauerlächeln erlebt. An diesem Tag ist er auf Dialog aus. Mitch Ryder erzählt, schäkert mit dem Publikum, greift eingeworfene Zwischenrufe schlagfertig auf – und ist einfach gut drauf. „My beautiful wife‘s sitting there“, sagt er mit verliebtem Blick.
„Ain’t Nobody White“ von seinem genialen Album „Naked but Not Dead“ (1979) singt er auch. Den Song mit der hinreißenden Melodie im Chorus und dem vorwärtstreibenden Rhythmus singt er gefühlt fast jedes Jahr in Bonn. Und das ist gut so. Ich liebe ihn einfach. Und er bietet eine fantastische Grundlage für einen Solobeitrag des Gitarristen.
Selten gesungener Song
Ich weiß nicht, ob man „Heart of Stone“ von den Rolling Stones eigentlich besser singen kann, als es Mitch Ryder tut – inklusive Vokalausbrüchen. Einer der Höhepunkte: „That‘s Charme“ ist ein Song aus dem Jahr 1981, ein siedender Strom von rumpelnden Rhythmen und einem gospelbetonten Gesang. Den Song hat Ryder nicht oft gesungen –, „weil er so hart ist“, ja sagt er merklich ergriffen auf der Bühne. „Hauptsache du lebst!“, ruft ihm einer aus dem Publikum zu. Der Bann ist gebrochen. „Ah, da ist einer, der weiß, dass ich gerade 75 geworden bin. By the way, how’s your mother?“ Gelächter.
In diesem Stil geht es den ganzen Abend zu. Ziemlich entspannt, geradezu entkrampft und fröhlich. „Ich bin 75, ich sage immer noch LP, aber 75 ist gar nicht so schlecht.“ Sagt er ein anderes Mal, um später dann Drummer Tobias Ridder aufzuziehen, der gerade 31 Jahre alt geworden ist. „75 – 31, 75 – 31. Shit!“
Bevor er Robert Palmers „Simply Irresistible“ singt, erzählt Ryder, dass er auf guten Stimmen steht. Oft, sagt er, will er die Person gar nicht sehen, von dessen Stimme er so angetan ist, weil er Angst habe, sie könnte hässlich sein. Wie er dann auf Robert Palmer kommt? Wie auch immer. Er habe von dem Mann drei Alben, und der Kerl habe eine einfach zu kurze Karriere gehabt, aber wohl genug Geld verdient. Immerhin habe der Engländer in der Schweiz gelebt. Er habe ihn einmal gefragt, ob es nicht zu schade sei, all die guten Klamotten beim Auftritt anzuziehen, die er immer so durchschwitze. Mit 42 starb Robert Palmer in Paris.
Die Toten und die Lebenden
Ja, die Toten und die Lebenden. In Jim Morrison sei er nie verliebt gewesen, sagt er, bevor er sein ultimatives Schlussstück ankündigte: „Soul Kitchen“ von den Doors. „Die jungen Leute zünden immer noch Kerzen für ihn an. Wie alt wäre er heute?“, fragt er und weiß natürlich, dass er ein Jahr vor ihm geboren wurde, also jetzt 76 gewesen wäre.
„Sie konnten ihn nicht leugnen“, sagt er über Bob Dylan und der Song „From a Buick 6“ sei „lyrischer Wahnsinn“. „Tuff Enuff“ von The Fabulous Thunderbirds findet er einfach „kinda cool“.
„Betty’s Too Tight“ (1981) gehört auch nicht gerade zum Stammrepertoire. Komisch, denn es ist ein richtig starker und typischer Mitch-Ryder-Song mit rhythmischem und lyrischen Wahnsinn. Schweißtreibend. Es sei ein Song über seine erste große Liebe, erzählt er gut gelaunt. Aus der Highschool-Zeit, wo er von dem Mädchen geträumt habe, es abgefangen habe, um ihr die Schulbücher zu tragen. „She was hot!“, sagt er, und er habe alles getan, um sie zu sehen. Nur: „Betty war ein Junge. Und das lange bevor es die Transgender-Bewegung gab. Wir haben keine Liebe gemacht. Es war kompliziert.“
Was für ein sagenhafter Abend! Wir freuen uns jetzt schon auf 2021!