Eine der schönsten Neuveröffentlichungen der Progrock-Szene legt die britische Neoart-Band Marillion vor. „An Hour Before It’s Dark“ ist an manchen Stellen sogar hardrockiger als die jüngsten Marillion-Alben. Es gibt Passagen, wo sie an Muse oder Genesis erinnern, ein Progrockalbum voller aufsteigender Gitarren, offener, breiter Keyboardsounds, und auch die Drums wirken hier irgendwie größer.
Auf ihrem letzten Album F.E.A.R. von 2016 ging es um Gier, Bankenkartelle und Kriegshetzer. Die Themen auf dem neuen Album sind wieder nachdenklich machend. In den Eröffnungstracks „Be Hard on Yourself“ und „Reprogram the Gene“ geht es um Materialismus und Konsum und die Auswirkungen, die sie auf die Umwelt haben – mit dem Appell, seinen Lebensstil zu zügeln.
„An Hour Before It’s Dark“ – Damit rufen die Eltern in England ihren draußen spielenden Kindern zu, dass es Zeit ist, nach Hause zu kommen. Es steht auch für eine Metapher, dass es „Fünf vor zwölf“ ist. Marillion-Sänger Steve Hogarth zeichnet wieder verantwortlich für die Texte. Der 65-Jährige ist seit 33 Jahren Teil der Band und hat mit seiner gut erkennbaren, mal sphärisch leichten, mal rockig-rotzigen Stimme den Sound geprägt. Dass die Band immer politischer mit ihren Aussagen wird, ist für Hogarth der natürliche Lauf der Dinge: „Ich bin 65, verdammt. Ich habe alle meine Liebeslieder geschrieben. Hunderte. Ich habe mich beruhigt und mache mir keine Sorgen um mein Liebesleben. Aber ich habe große Angst vor anderen Dingen. Deshalb schreibe ich über sie“, hat er in einem Interview gesagt.
„Murder Machines“ ist melodisch ein Ohrwurm, obwohl der Text über positive Tests, Antikörper, Impfstoffe und Tod bringende Nähe in diesem Fall etwas platt ist. Dennoch beweist die Band überwiegend musikalische und lyrische Tiefe. Wunderschön ist Hogarth mit „The Crow and the Nightingale“ eine Hommage an Leonard Cohen gelungen – mit üppigem, musikalischem Hintergrund für den Gesang, ergänzt durch einen wunderschönen Chor und ein hübsches Klavier von Mark Kelly.
„Sierra Leone“ erzählt die Geschichte eines armen Mannes, der auf einer Müllhalde einen unbezahlbaren Diamanten entdeckt. Indem er sich dazu entschließt, ihn nicht zu verkaufen, gewinnt er für sich ein Höchstmaß an Freiheit. Es ist vielleicht der beste Song auf dem Doppelalbum. Die Musik lässt viel Raum zum Atmen und Gitarrist Steve Rothery Möglichkeiten, seine soundorientierten Einsätze auszuleben.
Der abschließende Track „Care“ vermittelt die Botschaft, dass niemand weiß, wann seine Zeit abgelaufen ist, und dass er das Leben nicht vergessen sollte, während er gleichzeitig denjenigen huldigt, die während des Lockdowns weiterarbeiten mussten. Es ist ein kraftvoller und emotional aufgeladener Song mit vielen ruhigen Momenten und einer erhebenden Atmosphäre.
„Care“ ist ein weiterer Höhepunkt der Nouveau-Marillion-Ära und beginnt mit einem tanzbaren, elektronisch inspirierten Groove, der die Flirts der Band Anfang der 2000er widerspiegelt.
Es gibt nicht viele Bands, die so viel Zeit, Arbeit, Liebe und Liebe zum Detail in ihre Alben stecken wie Marillion, und „An Hour Before It’s Dark“ ist ein weiteres groß angelegtes Werk mit größtenteils beeindruckender Musik. Es ist immer ein Erlebnis, Steve Rotherys Gitarrenarbeit zuzuhören, und die charakteristischen Soli, die er auf der gesamten Platte liefert, verleihen jedem einzelnen Track zusätzliche Veredlung. Mark Kelly hat längst einen neuen, modernen Synthesizer-Ansatz erarbeitet und liefert Stimmungen, Texturen, Atmosphären und Nuancen, die für atemberaubende Klanglandschaften sorgen. Pete Trewavas und Ian Mosley bewähren sich nach wie vor als hervorragende Rhythmusgruppe.
Nur wenige Bands haben sich so erfolgreich entwickelt wie Marillion. Angefangen als Genesis-Möchtegern-Neo-Progger brachten sie später so verträumte Alben wie „Marbles“ (2004) raus, begaben sich in akustische Chill-Zonen und verschwanden gar für viele zeitweise vom Radar. Doch seit ein paar Jahren ist die Band so kraftvoll präsent wie nie zuvor. Einige der Stücke auf dem neuen Album glänzen gar vor subtiler Genialität, weil die Band es nicht mehr nötig hat mit Extravaganzen zu protzen. Es ist diese Zurückhaltung, der sparsame Einsatz von Effekten des Progrock, die die Musik zu einem kleinen Juwel macht.