Lynne Arriale bittet um ein wenig Geduld. „Nur 15 Minuten.“ Eigentlich ist die Jazz-Pianistin bekannt für ihre Pünktlichkeit. Sie hat gerade eine kleine USA-Tour hinter sich gebracht und ist erst in der Nacht zurückgekehrt in ihr Haus in Nord-Florida. Um zehn Uhr morgens ist sie bereit für ein Gespräch. Das Jazz-Magazin Downbeat nennt sie eine „geniale Komponistin, Solistin und Interpretin“. In diesen Tagen ist ihre neue Solo-CD herausgekommen, im Mai wird Arriale beim Jazzfest in Bonn erwartet. Mit ihr sprach Cem Akalin.
Die amerikanischen Kritiker überschlagen sich förmlich, wenn Sie ein neues Projekt anpacken. Was ist Ihr Geheimnis?
Lynne Arriale Ich bin glücklich über diesen Erfolg – und nehme ihn nicht selbstverständlich.
Sie seien sehr gut organisiert, wüssten immer genau, was Sie wollen: Die Jazz-Größen Randy Brecker und George Mraz schwärmten nach den Aufnahmen zu „Nuance“ von der Zusammenarbeit mit Ihnen. Die Presse urteilte, Brecker habe unter Ihnen seine besten Soli gespielt. Sind Sie solch ein zielstrebiger Mensch?
Arriale Organisation ist sehr wichtig. Der Erfolg kommt nicht selbstverständlich, man muss hart dafür arbeiten. Wir Musiker genießen eine enorme Freiheit, und damit muss man umzugehen wissen. George Mraz und Randy Brecker waren sehr offen für meine Ideen. Und immer bereit, etwas auszuprobieren, um den magischen Moment einzufangen.
Sind Sie Perfektionistin, oder haben Sie einfach nur eine genaue Vorstellung, wie Ihre Musik klingen soll?
Arriale Ich glaube nicht, dass ich eine Perfektionistin bin. Dafür ist das Leben zu kurz.
Für das Neuarrangement von Dizzy Gillespies „A Night in Tunisia“ haben Sie angeblich Sie ein Jahr gebraucht. Das klingt schon nach einer Perfektionistin, oder?
Arriale In diesem Fall war das auch so. Ich hatte das Arrangement vor Jahren geschrieben, war aber mit einem Teil nicht zufrieden.
Mit welchem Teil?
Arriale Es hatte für mich nicht die richtige Dramatik am Schluss. Wenn du eine Sache mal liegen lässt und sie dir mit Abstand noch mal vornimmst, fällt es dir leichter zu erkennen, was zu tun ist.
Auf Ihren CDs sind häufig Neuarrangements zu hören. Dafür, dass Sie Kompositionen sezieren und dann harmonisch wie rhythmisch wieder neu zusammensetzen, klingen sie sehr spontan, leichtfüßig. Wie geht das?
Arriale Wissen Sie, als Jazzmusiker haben Sie eine Menge Handwerkszeug. Wir sind manchmal so sehr mit den Harmonien beschäftigt, dass wir die Melodien vernachlässigen. Ich möchte, dass die Leute die Melodie erkennen. Damit eröffne ich Leuten, die sonst mit Jazz nichts anfangen können, die Tür zum Jazz und meinen Improvisationen. Ich nehme sie mit auf eine Reise.
Sie haben als Kind mit einer klassischen Ausbildung begonnen, studierten am Konservatorium in Wisconsin und fanden relativ spät zum Jazz. Wie kommt’s?
Arriale Ich habe begonnen, Jazz zu hören, als ich vielleicht 25 Jahre alt war. Mit drei, vier Jahren habe ich gerne Musicals wie „My Fair Lady“ gehört. Und ich wollte früh Klavierunterricht bekommen. Ich hatte eine Klavierlehrerin, die irgendwann mitbekam, dass ich nicht nach dem Notenblatt spielte, sondern rein nach dem Gehör. Aber ich lernte doch noch Noten lesen. Mit 17 bekam ich einen phänomenalen Klavierlehrer, bei dem ich acht Jahre blieb. Eines Tages ging ich so durch die Straßen von Milwaukee, wo ich am Konservatorium studierte, und da war ein Plakat, auf dem stand: „Du solltest Jazz studieren.“ Ich wusste gar nicht so recht, was das ist: Jazz. Ich wusste, das hat was mit Improvisationen zu tun. Ich wusste nicht einmal, wer Charlie Parker war.
Wie ging’s weiter?
Arriale Ich nahm Unterricht. Mein Lehrer spielte beim ersten Mal ein paar Akkorde und wollte, dass ich eine Melodie darüber spielte. Und ich sagte: „Willst du mich veräppeln?“ Er sagte: „Weißt du denn nicht, was Jazz ist?“ Ich dachte nur, oh mein Gott! Und dann ging’s los.
Was genau ging los?
Arriale Ich lernte die Musik von Charlie Parker, Bud Powell, Thelonious Monk, Cedar Walton, Bill Evans und vielen anderen kennen.
Wenn man dem obersten Jazz-Aufseher Wynton Marsalis glauben darf, muss ein Musiker erst einmal die gesamte Jazzliteratur kennen, bevor er sich überhaupt in die Szene trauen darf. Wie war das bei Ihnen? Sie kamen ja praktisch aus einer fremden Welt?
Arriale Richtig. Aber es spielt keine Rolle, wann wir damit beginnen, Jazz zu studieren, um ein professioneller Musiker zu werden. Ich stimme Wynton Marsalis zu, dass wir die Tradition des Jazz und die alten Meister kennen müssen. Du musst diese Musik gehört und geschätzt haben, um ihre Sprache zu lernen. Ja, letztlich ist es so, wie eine Fremdsprache zu lernen. Da muss man sich auch immer wieder in Konversation üben, um ein Gespräch fließend führen zu können. So ist es auch in der Musik: Man lernt Intonation, Akkorde mit der linken Hand und Tonleitern mit der rechten zu spielen.
Mussten Sie viel üben?
Arriale Ja, natürlich. Aber ich war auch musikalisch ausgehungert.
Ist es von Vorteil, wenn man „unvorbelastet“ an den Jazz geht?
Arriale Vielleicht ist es so. Ich hatte immer den Eindruck, dass ich Dinge mit anderen Ohren höre.
Wie macht sich das in Ihrem Spiel bemerkbar?
Arriale Die Musik, wie ich sie präsentiere, nenne ich „kontinuierliche Verbrennung“. Was ich tue ist, das Publikum teilhaben zu lassen. Die Hörer werden ganz sachte an die Musik herangeführt, damit sie nachher richtig für den Jazz brennen können. Sie sollen kleine melodische Ideen heraushören, so dass sie am Ende auch die Improvisationen nachvollziehen können. Das ist auch hilfreich für Leute, die schon seit 30 Jahren Jazz hören, aber vielleicht keine Ahnung haben, was wir da eigentlich auf der Bühne tun.
Als wir letztes Jahr über Jazz sprachen, sagten Sie, wir brauchen Jazz, weil es eine universelle Sprache ist und Leute zusammenbringt. Das klingt sehr idealistisch.
Arriale Menschen treten doch andauernd in Kontakt. Sie und ich, wir haben eine Verbindung über den Jazz hergestellt. Kommunikation ist auf vielfältige Art möglich, eine davon ist der Jazz. Victor Hugo hat mal geschrieben: Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.
Meine Frau sagt: Jazz ist männlich. Sie verkaufen Ihre CDs über eher feminine Assoziationen. Wenn Ihre CDs aber bei mir zu Hause laufen, sind viele meiner Freunde überrascht, dass es eine Pianistin ist, die da spielt.
Arriale Jazz ist menschlich. Jeder von uns hat eine vielschichtige Persönlichkeit, eine feminine und maskuline … Also (lacht) das ist eine ganz andere Story. Nein, nehmen wir das Meer, das eher weibliche Assoziationen weckt, aber es kann auch sehr rau werden, Felsen zum Zerspringen bringen. So ist das bei mir auch. Da gibt es die Starke, die Sensible, die Traurige – alle Emotionen, die ein Mensch haben kann. Genauso ist die Musik auch. Menschlich.
Was ist schwieriger: eine eigene Komposition zu schreiben oder vorhandenes Material zu bearbeiten?
Arriale Definitiv die eigene Komposition. Sie sitzen vor einem nackten Blatt Papier. Die Schwierigkeit ist weniger, eine Melodie zu komponieren, als vielmehr ein Stück zu eröffnen. Der erste Eindruck muss sitzen, weil er das Gefühl für das Ganze prägt.
Wie wählen Sie Ihr Songmaterial aus? Die Beatles und Sting kommen öfter vor, oft Traditionals, natürlich Dizzy und Monk.
Arriale Sie müssen eine Melodie haben. Wenn ich einen bekannten Song nehme, muss das Publikum das Stück auf eine Weise präsentiert bekommen, wie man es noch nie gehört hat.
Auf ihrer CD „Convergence“ haben Sie sogar ein Stück von Nine Inch Nails überarbeitet. Sie hören Industrial Rock?
Arriale Ich höre alles Mögliche. „Something I Can Never Have“ ist eine wundervolle Komposition, sehr dunkel, sehr emotional.
Ihre Version des Stones-Songs „Paint it Black“ klingt fast orientalisch.
Arriale Ja, da kommt meine Liebe zur World Music zum Ausdruck.
Mehr als zehn Jahre lang gab es Sie nur im Trio, vor allem mit Jay Anderson und Steve Davis. Dann suchten Sie sich neue Musiker und wandten Sie sich dem Quartett zu. Warum?
Arriale Die Zeit mit Jay und Steve möchte ich nicht missen. Aber es war Zeit, Neues auszuprobieren.
Mit Anthony Pinciotti am Schlagzeug haben Sie eine neue Konstante in der Band. Ein dynamischer, athletischer Drummer. Wollten Sie mehr Power?
Arriale Anthony kann wirklich alles. Das stimmt. Aber der Punkt war, dass ich musikalisch in eine neue Richtung gehen wollte.
In Bonn werden Sie auch mit Tony Lakatos und Martin Gjakonovski auftreten. Mit den beiden sind Sie schon mal getourt, oder?
Arriale Ich war schon oft mit den beiden unterwegs. Meine Agentin Gaby Kleinschmidt hat uns zusammengebracht.
Sie haben 2004 im Kammermusiksaal des Beethoven-Hauses ein Solokonzert gegeben.
Arriale Ja, ich kann mich noch sehr gut erinnern.
Acht Jahre nach dieser Soloerfahrung haben Sie gerade Ihr erstes Album in dieser Königsdisziplin herausgebracht. Warum hat es so lange gedauert?
Arriale Ich war einfach noch nicht bereit dazu. Piano solo ist eine völlig andere Sache, es ist eine Reise mit offenem Ausgang. Du kannst Dich in jede Richtung bewegen, die du willst. Du bist frei.