Am Ende der knapp zweieinhalbstündigen Show von Genesis am Freitag in der O2-Arena in London hatte man fast vergessen, dass Phil Collins solch ein Konzert nur noch im Sitzen meistern konnte. Als er im Halbdunkeln auf den Gehstock gestützt langsam von der Bühne ging, dem Publikum noch zuwinkend, da war es überraschenderweise der rührendste Moment. „Das ist der letzte Stopp auf unserer Tour, danach müssen wir uns wohl neue Jobs suchen“, sagte Collins. Da hatte die Band schon einen fulminanten Start mit „Behind the Lines / Duke’s End“, dem rockriff-lastigen „Turn It On Again“ und dem von lavaroten Bildern begleiteten Song „Mama“ hinter sich.
Natürlich hatte man erwartet, dass sich das Trio für die letzte Station der Abschiedstour in seiner Heimatstadt noch etwas Besonderes aufgehoben hätte. Vielleicht einen Gastauftritt von Peter Gabriel? (Übrigens: Peter Gabriel war bei der letzten Show am Samstag unter den Zuschauern!) Oder wenigstens noch etwas weniger Spektakuläres? Doch dafür sind die Engländer einfach wieder zu britisch, haben zu viel Understatement. Und es spricht für Phil Collins, Mike Rutherford und Tony „niemals eine Mimik zu viel“ Banks, dass es in keiner Phase des großartigen Konzertes wehmütig wurde. Im Gegenteil. Selbstironie und Humor hat Collins in der DNA – das kann man ja auch in seiner unterhaltsamen Autobiografie nachlesen.
„Need I say that emotions are something we don’t share?“
Einmal vielleicht wurde es für all die Fans ein wenig melancholisch, als bei „Throwing It All Away“ im Hintergrund Bilder von Plattencovern, VHS-Cassettenrücken und Tonbandaufschriften aus der mehr als 50-jährigen Geschichte der Band über die riesige LED-Wand flimmerten. Und Collins sang dazu die so bezeichnende Songzeile „Need I say that emotions are something we don’t share?“
Kaum eine Band hat mich in meinem Leben so intensiv begleitet, wie Genesis. Irgendwann Anfang der 1970er Jahre entdeckte ich diese Band, die genau die richtige Antwort hatte für junge Leute wie mich, die einfach nicht auf „Butterfly“ von Danyel Gérard oder „Tweedle Dee Tweedle Dum“ von Middle Of The Road standen. Natürlich gab es John Lennon, T. Rex, Deep Purple und Black Sabbath – doch Genesis öffneten eine neue Tür im Rock. „The Musical Box“ und „Watcher of the Skies“ waren Offenbarungen und boten genug Rätselhaftes und eine sagenhafte Vielschichtigkeit in einem einzigen Song, so dass junge Leute wie ich nur mit offenem Mund in der Kabine zum Probehören im Plattenladen standen und die neu erworbene Platte wie einen verbotenen Schatz nach Hause trugen. Von 1975 bis 1978 habe ich Genesis jedes Jahr erlebt – mit Peter Gabriel die „Lamb lies Down on Broadway“-Tour. Ich war niedergeschlagen, als Peter die Band verließ, und konnte mir Genesis ohne ihn nicht vorstellen. Dann kam Phil Collins.
„A perfect body with a perfect face“
Es gibt aus der frühen Genesis-Phase kaum einen Song, mit dem ich nicht ganz persönliche Erinnerungen verknüpfe. Genesis schrieben sowas wie den Soundtrack meines (jungen) Lebens. Das hörte dann mit den kommerziellen Poprock-Songs der späten Genesis mehr oder weniger auf. Die waren zugegebenermaßen nicht ganz mein Fall. Dennoch bin ich Genesis immer treu geblieben – auch dem Solo-Programm der einzelnen Mitglieder.
Als 2007 die vorerst letzte Tour lief, war ich natürlich dabei (in Düsseldorf). Wieder hatte mich die Show total gepackt. Die Showeinlagen von Phil und die Drum-Duetts mit Tourschlagzeuger Chester Thompson bleiben legendär. Phil ist ein geborener Entertainer. Und das hat er auch jetzt wieder bewiesen. Warum mich die 2007-er Tour emotional mehr angerührt hat, kann ich nicht sagen. Das alles war für mich viel mehr ein Abschied als es sich bei „The Last Domino?“ anfühlte. Dazu war die Atmosphäre in London einfach zu ausgelassen, und Phil Collins verpackte das Programm mit viel Humor. Ich meine: Im Sitzen „I Can’t Dance“ zu singen und bei Zeilen wie „You never know who’s looking on/A perfect body with a perfect face“ grinsend auf sich zu zeigen, ist einfach witzig. Mike Rutherford stellte ihn so vor: „Er fing als Schlagzeuger an, wurde dann Sänger. Mal schauen, was als nächstes kommt: Phil Collins.“
Nicholas Collins bekam frenetischen Applaus
Schon mal ein Fazit der zweiten von drei ausverkauften Shows in London: War es das beste Genesis-Konzert, das ich erlebt habe? Sicher nicht. Aber es war wieder einmal ein fantastisches Erlebnis. Genesis hat gezeigt, dass sie zu den tollsten Live-Acts im Rock gehören. Der Sound in der O2-Arena war übrigens fantastisch. Und der junge Drummer Nicholas Collins zeigte eine beeindruckende Leistung. Er bekam zu Recht frenetischen Applaus. Die Power seines Vaters war jedenfalls da. In meiner Erinnerung hatte Collins Senior etwas mehr Feingefühl in den Fill-ins. Phil Collins gehörte einfach zu den besten Drummern, die der Rock (und der Fusion-Rock) hatte. Chester Thompson war ein richtig ebenbürtiger Musiker. Dennoch: Nicholas hat ein Gefühl für dramatische Akzente, was für Genesis‘ Musik bedeutsam ist. Das habe ich kürzlich bei Steve Hackett nochmal festgestellt.
Wenn diese dreifach verschobene Reihe von Shows in London wirklich die letzte von Genesis ist, dann hat die Truppe auf jeden Fall ein starkes Statement hinterlassen – in ihrer 55-jährigen Geschichte haben sie eine sagenhafte musikalische Entwicklung durchlaufen – vom theatralischen Art-Rock mit Peter Gabriel als Leadsänger über expansiven Progressive Rock bis hin zu den stadionfüllenden Hit-Riesen mit Phil Collins als Schlagzeuger, Sänger und Entertainer, der auf der Bühne so agil wie kaum ein anderer Rockstar war.
Fantastische Bühnenshow
Körperlich gebrechlich und bei der Show auf einen Stuhl angewiesen, blieb seine Stimme im mittleren Bereich stark und charakteristisch, bei der klaren Bärbeißigkeit in den hohen Tönen unterstützten ihn die beiden Backgroundsänger Daniel Pearce und Patrick Smyth. Dennoch blieb Phil Collins präsent, sein Auftritt hatte auch etwas dem Körper Trotzendes. Immerhin: „Bei I Know What I Like (In Your Wardrobe)“ bot er uns nochmal eine kleine Darbietung mit dem Tambourin, das er sich im Takt an Kopf, Ellbogen und Bein schlug – um sich dann am Ende feixend seine wunde Stirn zu reiben. Gitarrist Daryl Stuermer ist und bleibt ein fantastischer Musiker, sein Solo auf „Firth of Fifth“ war einfach grandios.
Dazu gab es eine fantastische Bühnenshow: schwebende, immer wieder kippende Scheinwerferensembles in der Anordnung von Dominosteinchen, ordentlich Nebelmaschinen und grell-weiße Lichtstrahler, tolle Bilder auf der LED-Leinwand, die mal die Künstler zeigten, dann immer wieder zu den Songs passende Effekte und Video-Sequenzen. „Land of Confusion“, einst in Anspielung an den früheren US-Präsidenten Ronald Reagan entstanden, wurde zur aktuellen Quintessenz der Pandemie umgedeutet – mit Kolonnen von Mund-Nase-Maske tragenden Geschäftsleuten, fliegenden TVs und Regen von Klopapierrollen (schönen Gruß an Deutschland!) inklusive.
„They say there’s always magic in the air“
Das Publikum stand vom ersten Ton an auf von seinen Plätzen und blieb bis zum Schluss stehen. Man feierte „Home by the Sea“ mit tollen Gruselbildern, „The Cinema Show“, von dem nur der Instrumentalteil aufgeführt wurde, mit Auszügen aus „Riding The Scree“ (aus Lamb Lies Down On Broadway“) und „In That Quiet Earth (aus „Wind & Wuthering“), das dann in das dramatische „Afterglow“ überging. Bei den wuchtigen Drumpattern von „Second Home by the Sea“ drehte sich Collins zu seinem Sohn um und deutete stolz auf ihn. Ein rührender Moment.
Überraschend war der Akustikteil mit „That’s All“, der wehmütigen Version von „The Lamb Lies Down on Broadway“, und der sanften von Akustikgitarren getragenen Ausführung von „Follow You Follow Me“, zu dem das Publikum seine Handylichter leuchten ließ. „The Lamb Lies Down On Broadway“ klang wie der Soundtrack zum Abschied: „Die Nachtwächter hatten ihren Spaß. … Es ist das gleiche alte Ende – Zeit zu gehen. … Es scheint, dass sie ihren Traum nicht verlassen können“, heißt es da. Und am Ende: „They say there’s always magic in the air.“
Ganz stark war „Duchess“. Zu dem Song ploppten kleine bunte Lichter wie Glühwürmchen auf der Leinwand auf, stiegen auf und zerplatzten zu Farbwirbeln wie in einem psychedelischen Rausch.
Als Zugabe gab es „I Can’t Dance“, das Intro und die erste Strophe von „Dancing With the Moonlit Knight“ und eine ganz starke Fassung von „The Carpet Crawlers“. Der Abend zeigte auch, dass diese Band mehr Musiker beeinflusst hat, als viele denken. Die düstere, sparsame Instrumentierung von „Mama“ hat sicher Massive Attack geprägt, Coldplay, Radiohead, Muse oder The Flower Kings sind bestimmt Genesis-sozialisiert. Genesis hatten vielleicht nie den diesen exklusiven Cool-Status von Bands wie King Crimson, Pink Floyd oder Rush, aber sie waren vielleicht für viele ausschlaggebender.
Das war sie also, die letzte Station. Keine Offenbarung, aber denkwürdig in der Nachhaltigkeit des Erlebten. Das macht diesen Stich ins Herz, dass sich diese Band so einfach davonmacht aus deinem Leben, ein wenig erträglicher. Es bleibt eine Hoffnung: dass es noch ein letztes Live-Album geben wird.