17. Juni 1977, Müngersdorfer Stadion, Köln. Wir hatten gerade das Abi hinter uns. Aber mehr als die Freude über das Ende der Schulkarriere, bewegte uns die Liveshow von Genesis. Schon Stunden bevor die Tore geöffnet wurden, standen wir vor dem Stadion. Wir wollten ganz vorne dabei sein, wenn Phil Collins, Steve Hackett, Tony Banks und Mike Rutherford loslegten. Und es sollte eines der besten Liveerlebnisse werden, die ich erlebt habe. Vielleicht sogar noch nachhaltiger als Genesis mit Peter Gabriel zwei Jahre davor in Düsseldorf oder mit Bill Bruford an den Drums auf der Loreley 1976. Vielleicht war es der Gesamteindruck. Der mächtige Sound, die Lichteffekte, die Nähe zur Bühne. Die fantastische Setlist, die keine Wünsche offenließ. Die Band war fantastisch aufgelegt, und uns kamen sie vor, wie von einem anderen Stern. Es war perfekt.
Und dann kam die Show mit einigen Änderungen in der Setlist auch noch als Doppelalbum raus. Besser konnte es nicht sein. Das Doppelalbum „Seconds out“ zählt mit Recht zu den wunderbarsten Liveveröffentlichungen des Rock und hat bei vielen Fans Kultstatus. Dass Steve Hackett erst 2021/22 dazu kommt, dieses Album auf seiner Tour in Gänze zu spielen, verwundert da einigermaßen.
Die Erwartungen an das Konzert von Steve Hackett in der Jahrhunderthalle in Frankfurt waren also entsprechend groß. Spoiler: Das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen.
„Spectral Mornings“
Der erste Teil des Konzerts bestand aus eigenen Stücken. Auf dem Opener „Clocks – The Angel of Mons“ vom Album „Spectral Mornings“ ließ Hackett schon seine Gitarre fett durchs blaue Licht auf der Bühne gleiten. Streckenweise konnten wir „Squonk“ erahnen. „Held in the Shadows“ vom wirklich starken aktuellen Album „Surrender of Silence“ hat leichte Folkanklänge. Das erste Mal wirklich weggeblasen von Staunen waren wir bei „Every Day“, ebenfalls vom Erfolgsalbum „Spectral Mornings“. Der Instrumentalteil war ein einziger Gänsehautmoment. Hackett hat einfach ein unglaubliches Gefühl für vieldimensionale Soundkonzepte. Spätestens hier bekam das Publikum eine gewisse Ahnung dessen, was ihn bei „Seconds Out“ erwarten würde. „The Devil’s Cathedral“, ebenfalls vom aktuellen Album, zeigte zeitweise eine schräge, recht jazzige Seite von Hackett und seiner Band. Die Kirchenorgel erinnerte bisweilen an „Musical Box“, aber richtig stark war das Solo auf dem Sopransax von Rob Townsend. Ein Gefühl von Erhabenheit, von ultrabreiten Sounds gab es beim letzten Stück des ersten Sets „Shadow of the Hierophant“ von ersten Soloalbum „Voyage of the Acolyte“ (1975).
„Seconds Out“
Nach der Pause das „Seconds Out“. Kurz noch ein paar Sätze zur Band: Keyboarder Roger King kann sich richtig gut in die Welt von Tony Bank reindenken. Er spielt die Sätze fantastisch einfühlsam und gibt ihnen dennoch einen gewissen eigenen Charakter, was auch für das Spiel für Bassist Jonas Reingold gilt. Sänger Nad Sylvan liegt vom Ausdruck zwischen Peter Gabriel und Phil Collins, er versucht gar nicht erst, die beiden zu kopieren, was dem Gesamtkonzept guttut, weil es dann nicht so sehr nach Tributeband anhört. Townsends Einsätze an den Saxofonen sind fantastisch, wo wirklich notwendig, spielt er die Querflöte, vor allem bei „Supper’s Ready“ war das notwendig, weil der Klang so charakteristisch für das Epos ist. Schlagzeuger Craig Blundell hätte für meinen Geschmack gerne an der einen oder anderen Stelle etwas präsenter sein können. Glücklicherweise hat Hackett ihm bei „Los Endos“ genau diesen Part zugestanden.
Was „Seconds Out“ so besonders macht, ist eben auch die Songauswahl von frühen und damals aktuellen Stücken. Der Opener „Squonk“ ist vielleicht eines der wenigen Nummern, die nicht voller Emotionen und Majestät lodert. Nad Sylvan navigiert uns vom hinreißend-zarten „Carpet Crawlers“ zum frechen „Robbery, Assault and Battery“ und bombastischen „Afterglow“, bei dem der Bass die Wucht des Ausdrucks hält, die Drums aber eine Spur zu zurückhaltend sind. Zum stetig ansteigenden „Afterglow“ strahlen weiße Scheinwerfer durch leichten Nebel und erinnern etwas an das Cover.
„Firth of Fifth“
Und dann kommt das Stück, auf das wohl alle besonders hingefiebert haben: „Firth of Fifth“. Die vielen Facetten des Stücks geben Steven Wilsons Schlagzeuger eine Menge Raum, auch jazzige Seiten zu zeigen. Der ausgedehnte Instrumentalabschnitt hat diesen magischen Augenblick, wenn die Gitarre die Keyboards ablöst, und Hackett bietet hier ja eines seiner ausschweifenden, ausgesprochen schönen Solos im Genesis-Katalog.
„I Know What I Like (In Your Wardrobe)“ startet mit einem ausgeflippten Intro, ziemlich jeck ist dann auch das Tenorsax-Solo und ein unerwartetes Flöten-Solo. Wunderbar dann die dramatische Verschmelzung von „The Lamb Lies Down on Broadway“ mit dem Schlussakt von „The Musical Box“, die die emotionalen Kerne der beiden Songs angenehm destilliert. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wie gut der beschwörende Refrain „Why don’t you touch me, now?“ so hervorragend überleitet in das fast 25-minütige „Supper’s Ready“ vom Album „Foxtrot“ (1972).
„Supper’s Ready“
Die siebenteilige Suite bietet etliche Höhepunkte, Taktwechsel, ein zerklüftetes musikalisches Werk, das vielleicht eines der einflussreichsten Stücke dieses Genres ist, weil es damals so manche Dimensionen sprengte – textlich aber auch musikalisch. Laut Keyboarder Tony Banks war die Ursprungsidee, eine Art Nachfolger von „The Musical Box“ zu schreiben. Dann lief es so gut und auch aus dem zeitlichen Ruder.
Die sechs Männer auf der Bühne schienen wirklich Spaß an dem Stück zu haben. Und sie meisterten auch jede Stolperfalle in dem Stück, das Publikum wartete derweil auf den besonderen Moment: „Social Security took care of this lad
We watch in reverence, as Narcissus is turned to a flower…“ Und der ganze Saal rief: „A flower?“
Musikalisch ist tatsächlich nichts auszusetzen, dennoch hätte ich mir mindestens bei diesem Stück etwas mehr visuelle Stimulation gewünscht – ähnlich wie bei der 2007er Tour von Genesis, als im Hintergrund historische Bilder der Band gezeigt wurden.
Dennoch. Es war ein Genuss, vor allem, als dann auch noch mit „The Cinema Show“ noch so ein sagenhafter Genesis-Klassiker folgte. Leider fiel mitten im Instrumentalteil die linke PA-Anlage aus. Das blieb auch noch bei der Zugabe mit dem donnernden „Dance on a Volcano“ und dem anschließenden Drumsolo so. Glücklicherweise lief die Technik dann wieder beim furiosen Ende „Los Endos“.