Jugendgefährdend oder Kult? – Wiederentdeckt: Die Ärzte im Skandal-Interview von 1987 nach einem Auftritt in der Biskuithalle Bonn

Unveröffentlicht und brisant! 1987 sprach ich mit den Ärzten nach einem Konzert in Bonn – doch das Interview landete in der Schublade. Der Grund? Es ging um Vorwürfe der Frauenfeindlichkeit, um Indizierungen und einen Song über Inzest. Die Aussagen von damals waren einigen Medien, für die ich als freier Journalist arbeitete zu heikel. Den Text legte ich ab und wollte ihn eigentlich noch anderen Medien anbieten. Er wurde vergessen… und jetzt beim Aufräumen des Archivs wiederentdeckt. Jetzt wird das Gespräch zum ersten Mal veröffentlicht und gibt Einblick in eine Zeit, in der die Berliner Punkband zwischen Teenie-Hysterie und Erwachsenenskandalen balancierte, und eine Zeit, in der es viele Tabus gab.

Von Dylan C. Akalin

„Die Ärzte“ – geliebt, gehasst, indiziert. Die Berliner Band, die als freche Teenie-Punkgruppe begann, wurde in den 80ern zur meistindizierten Band Deutschlands. Einige ihrer Songs sorgten für Empörung, führten zu Indizierungen und katapultierten die Gruppe um Farin Urlaub, Bela B. und Hagen Liebing in die Schlagzeilen.

Die frühen Jahre und die Skandale der 80er

Gegründet 1982 in Berlin von Farin Urlaub (Jan Vetter), Bela B. (Dirk Felsenheimer) und Sahnie (Hans Runge), starteten Die Ärzte als Spaß-Punkband, die sich durch ironische Texte und eingängige Melodien auszeichnete. Ihre ersten Erfolge feierten sie mit Songs wie Paul, Zu spät und Teenagerliebe. Doch es waren nicht nur die Musik und der Humor, die sie bekannt machten – sondern auch ihre Provokationen.

Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften nahm die Band ins Visier: 1987 wurden gleich zwei ihrer Alben, „Debil“ und „Die Ärzte“, auf den Index gesetzt. Grund waren Lieder wie „Geschwisterliebe“, das angeblich Inzest verherrlichte, und „Claudia hat ’nen Schäferhund“, das als geschmacklos galt. Trotz oder gerade wegen dieser Verbote wuchs die Popularität der Band. Doch die Indizierungen führten auch zu Spannungen mit ihrer Plattenfirma, und 1988 lösten sich Die Ärzte offiziell auf.

Die Wiedergeburt in den 90ern

Nach einer kreativen Pause kehrten Die Ärzte 1993 mit Rodrigo González als neuem Bassisten zurück. Mit Alben wie „Die Bestie in Menschengestalt“ (1993) und „Planet Punk“ (1995) bewiesen sie, dass sie mehr waren als nur Provokateure – sie konnten auch Hits schreiben, die sich zwischen Punk, Pop und Satire bewegten. „Schrei nach Liebe“, ihr wohl bekanntester Song aus dieser Zeit, wurde zur Hymne gegen rechts und markierte einen politischen Wendepunkt in ihrer Musik.

2000er und heute – Die Ärzte als lebende Legenden

Seitdem haben Die Ärzte mit Alben wie „Runter mit den Spendierhosen“, „Unsichtbarer!“ (2000) und „Jazz ist anders“ (2007) immer wieder neue musikalische Facetten gezeigt. Trotz Pausen und Solo-Projekten blieben sie als Band aktiv und bewiesen mit ihrem 2021 erschienenen Album „Dunkel“, dass sie immer noch relevant sind.

Von einer umstrittenen Punkband der 80er, die mit Verboten kämpfte, entwickelten sich Die Ärzte zur Kultband, die Fans über Generationen hinweg begeistert – mit dem gleichen schrägen Humor, aber heute auch mit einer Prise gesellschaftskritischer Reife.

Interview nach einem Konzert in der Biskuithalle in Bonn

In einem Interview, das im Oktober 1987 nach einem Konzert Backstage in der Biskuithalle in Bonn stattfand, sprachen die Ärzte über Zensur, absurde Vorwürfe und ihre unerwartete Rolle als Provokateure. Das Gespräch wurde damals nicht veröffentlicht – jetzt kommt es endlich ans Licht. Leider bleiben die Fotos, die ich damals machte, immer noch verschollen.

Meine vorgeschlagene Schlagzeile lautete „Frauenfeindlich und Jugendgefährdend? – DIE ARZTE werden von Teenagern umschwärmt, von Erwachsenen mit Argwohn betrachtet

Hier ist der Artikel von damals:

Vor fünf Jahren waren sie nur eine der unzähligen Berliner Punkbands. Heute sind sie als verschriene Teenie-Popper-Band erfolgreich und, von einigen Schülerbands mal abgesehen, wohl die einzige rein Berliner Musikgruppe: die „ARZTE“. Besangen sie zu Beginn ihrer Karriere noch „Teenagerliebe“, ist es heute die „Geschwisterliebe“, die ihnen zusehends Ärger macht. Der Arger, den sie wegen dieses Inzest-Songs, aber auch wegen anderer Lieder haben, brachte zwei Platten nicht nur auf den Index als „jugendgefährdend“, sondern bringt die ARZTE immer häufiger in die Schlagzeilen. Mittlerweile müssen sie sich auch mit dem Vorwurf der Frauenfeindlichkeit „schmücken“.

Man wirft Euch Frauenfeindlichkeit vor? Wer tut denn sowas?

Bela: Diejenigen, die behaupten, wir seien frauenfeindlich, sind komischerweise alles Männer und weit über die 60.

Wie alt seid Ihr?

Farin: Na, weit unter der 60.

Bela: Und über 16.

Warum tragt Ihr eigentlich keine weißen Kittel?

Farin: Weil wir nicht Jürgen von der Lippe heißen. Kennst Du Leute, die zum Beispiel Müller oder Schmied heißen? Die laufen auch nicht rum und mahlen Mehl oder beschlagen Pferde. Die „ARZTE“ ist einfach eine ganz normale Bezeichnung für Musik.

Und wieso heißt Du Hagen?

Hagen: Mein Künstlername ist Hagen, weil das der Bösewicht ist aus den Nibelungen.

Farin: Und ich heiße Urlaub, weil meine Eltern echt bescheuert waren.

Bela: Und ich heiße Bela B., weil B. die Abkürzung für ein unanständiges Wort aus dem deutschen Sprachgebrauch ist.

Draußen sind ein paar Mädels total ausgeflippt, weil du sie berührt hast und meinten nur noch: ,Nie wieder waschen.‘

Farin: Die haben wahrscheinlich an mir gerochen, und wissen jetzt wie schön es sein kann, wenn man sich nie wäscht.

Seit wann seid Ihr denn so erfolgreich?

Farin: Ach, sind wir das? Seitdem wir uns nicht waschen, nehme ich an.

Bela: Darum spielen wir auch in immer größeren Hallen, weil unser animalischer Geruch mittlerweile nicht nur für 200, sondern für 3 000 Leute ausreicht.

Ihr habt jetzt Schlagzeilen gemacht, weil Ihr auf dem Index erschienen seid

Farin: Du meinst unsere Geruchsplatte?

Bela: Die haben ja sogar jetzt nach-drei Jahren unsere Platte „Debil“ indiziert. Mit dem Plakat von unserer letzten Tournee haben sie es auch versucht, sind aber nicht mit durchgekommen. Die verkaufen wir jetzt auch. Wir haben berechtigte Hoffnung 1988 in das Guinness Buch der Rekorde zu kommen, als, zumindest in der westlichen Welt, meistindizierte Band. Es sind auch Amerikaner und Engländer auf uns aufmerksam geworden, die sich ihr Lebenswerk nur dem Kampf gegen die Zensur widmen.

Also Leute wie … von den Dead Kennedys oder Frank Zappa.

Bela: Afra hat zum Beispiel festgestellt, dass so ein Fall wie die ÄRZTE in der ganzen Welt nicht existiert, dass das wirklich fast Zustände wie in Chile sind. (hustet und lacht)

Farin: Wir wollen uns hier nicht zum Märtyrer machen, nur weil wir uns nicht waschen.

Bela: Für uns war es jedenfalls positiv, weil die Platte „Arzte ab 18″ jetzt sogar in England erscheinen wird.

Farin: Nee, das ist gestorben.

Bela: Was? Wie seid Ihr denn ausgerechnet darauf gekommen eine Coverversion von den Bangles aufzunehmen?

Farin: Englisch singen ist doch ganz schön schwer.

Hagen: Wir können nicht so gut Englisch sprechen.

Bela: Erstens ist es ein gutes Stück und zweitens haben wir schon öfters Coverversionen gemacht. Das haben wir bei unserer letzten Tournee geschrieben. Wir haben das nur so aus Spaß gemacht. Und dann haben wir das als Zugabe gespielt. Damit hat keiner gerechnet. Außerdem konnten wir den Text ziemlich schnell auswendig lernen. Wir haben den Text unter Umständen geschrieben wie zum Beispiel…

Farin: (singt) Lalala, hat jedenfalls nicht lange gedauert.

Hagen: Im Hotel.

Bela: Unsere Managerin ist jedenfalls auf die Idee gekommen, während der Tournee einen Live-Mitschnitt zu machen und es als Single zu veröffentlichen, weil wir durch die Indizierung zwar bekannt geworden sind und die Medien mit dreimonatiger Verspätung auch kapiert haben, dass da was passiert ist. So halbwegs.

Farin: Aber wir hatten halt keine neue Platte so laufen gehabt.

Kommt diese Indizierung nicht aus dem Grund, weil Euer Publikum doch wirklich jung ist? Ich meine, Eure Texte sind doch gegen Texte von den „Toten Hosen“ oder den „Ledernacken“ wirklich harmlos.

Bela: Sag mir mal einen einzigen Text von den Toten Hosen, der härter ist. Ich mein es gibt einen Unterschied. Wir können singen: „Ficken, bumsen, blasen, alles auf dem Rasen“. Ich kann singen: „Baby, Du kommst mit mir nach Hause und ich fick Dir das Gehirn raus.“ Und Du kannst wie wir von Dingen singen, die verboten sind. Wir haben die Sachen nicht gewusst, aber wir haben von Inzest gesungen. Das war verboten. Wir haben über Gewalt in extremen Formen gesungen, und das bei einem jungen Publikum – So jung ist es übrigens nicht. Es fängt bei 16 an und hört bei 26 auf. Wir haben über Geschlechtsverkehr mit Tieren gesungen. Die Sache ist auch verboten. Die Phantasie haben Leute wie die „Toten Hosen“ gar nicht.

Hagen: Die beschränken sich auf Sadomasochismus und da haben wir auch einige Stücke drüber.

Farin: Wir wollen gar nicht die härteste Band sein.

Bela: Es geht gar nicht um einen Konkurrenzkampf. Es ging darum, dass von den ARZTEN zufällig eine Hausfrau aus Essen Antrag auf Indizierung gestellt hat, woraufhin man denn sein Augenmerk auf uns gerichtet hat, und gesagt hat, okay, dann sehen wir mal sämtliche Platten von den Ärzten durch.

Was sagt die Plattenfirma dazu?

Bela: Die hat sich leider ein bisschen distanziert von der ganzen Geschichte, womit wir natürlich nicht so ganz zufrieden sind.

Farin: Ich mein, das ist zwar unsere Sache, was auf die Platte kommt, aber im Fall von „Geschwisterliebe“ haben wir Rücksprache mit der Plattenfirma gehalten und ein etwa 60 % der Leute, die zu entscheiden haben, haben gesagt, okay, wir bringen das Stück raus. Wir haben schon schlimmeres von Euch veröffentlicht, haben sich dann aber nachher zurückgehalten, als die Hatz losging.

Setlist Die Ärzte, 5. Oktober 1987, Biskuithalle, Bonn

Intro
El Cattivo           
Radio brennt     
Frank’n’stein      
Du willst mich küssen    
Wir werden schön         
Wie am ersten Tag        
Claudia II           
Buddy Holly’s Brille        
Alleine in der Nacht       
2000 Mädchen 
Helmut K.          
Nein, nein, nein
Mysteryland      
Erna P. 
Madonnas Dickdarm     
Dein Vampyr     
Sie kratzt, sie stinkt, sie klebt     
Ich bin wild        
Sweet Sweet Gwendoline           
Zu spät 
The End (The Doors)      
Ist das alles?     

Zugabe
Gehn wie ein Ägypter (The Bangles Cover)

Zugabe
Der Ritt auf dem Schmetterling (Instrumental)   
Mädchen            

Zugabe
Down Down (Status Quo)    
Gute Nacht   
Outro