Classic Rock Night auf dem KunstRasen Bonn: Wir hören zwei Legenden, die stimmlich dramatisch abgebaut haben und mit Riverside eine sensationelle Progressive-Rock-Band, die alle in den Schatten stellt. Glücklicherweise hatten Fish und Ian Andersons Jethro Tull Spitzenmusiker im Rücken – wobei Fish besser abschneidet als der letzte Mohikaner von Jethro Tull.
Von Dylan Cem Akalin
Wenn Fans noch vor den Kultsongs „Aqualung“ und „Locomotive Breath“ den Platz verlassen, dann ist das schon eine Aussage. Natürlich sehen die rund 3000 Fans auf dem KunstRasen in Bonn Ian Anderson von Jethro Tull, wie er auf einem Bein steht, während er auf der Querflöte spielt. Nur die einstigen glänzenden Locken gibt es nicht mehr. Die sehen wir hin und wieder mal hinter ihm auf historischen Aufnahmen. Anderson, der vor einer Woche seinen 72. Geburtstag feierte, trägt ein Bandana, aber die exzentrische Pose hat er immer noch drauf.
Wir sind Anderson und seiner Band dankbar für den Wandel, den sie in die Rockmusik eingeführt haben. Komplexe Akkordwechsel, Jazz- und klassische Elemente, kunstvoll in den Rock der späten Sechziger verflochten, Texte voller Mythen und Legenden – das alles machte Jethro Tull zum König der Szene. Und die 60 Millionen verkauften Alben bestätigten auch finanziell den Erfolg der Band.
Selbstdemontage einer Legende
Und jetzt ist die Gruppe auf ihrer Jubiläumstour anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens. Als Sänger, Flötist und einziges Originalmitglied der Band ist es aber eigentlich eine Ian-Anderson-Tour. Und ausgerechnet Anderson ist es, der sich selbst geradezu demontiert. Seine Stimme ist von Anfang an schwach und angespannt. Anderson versucht, die Töne quasi mit Anlauf und mit akzentuierter Silbenbildung zu treffen, macht dadurch aber vieles nur schlimmer. Als ich ihn vor fünf Jahren in der Bonner Beethovenhalle hörte, da hatte er schon deutlich Mühe, seine Musik stimmlich zu performen. Da hatte er aber mit Ryan O’Donnell einer hervorragende Unterstützung, der in schwierigen Parts eingriff. Auf ihn hat der Schotte diesmal verzichtet. Schade.
Schade auch deshalb, weil Anderson unglaublich präsent war. Er trat schon beim Opener „For a Thousand Mothers“ mit erhobener Flöte auf die Bühne, drehte sich und tanzt wie ein Harlekin. Aber ein paar irritierende Momente gab es gleich zu Beginn auch. Woher kam der Klang der Querflöte, während Anderson noch sang?
Fantastische Band
Andersons Gesang und Flötenspiel hatten früher so etwas Reines, Zartes und doch Unzerbrechliches, etwas von einem Spielmann aus einer unbekannten Zeit. Aber über die Stimmprobleme kann keiner mehr hinweghören, zumal die Tontechniker sich alle Mühe geben, um Anderson mit geschickten Tricks an der Reglern zu unterstützen – und machen damit so manches misslicher. Denn jedes Mal, wenn die Band den Hauptpart übernimmt, ist der Sound so klar, dynamisch und präsent, dass der Rest abfällt. Keyboarder John O‘Hara und Bassist David Goodier unterstützen den Chef indes schon mal gesanglich. Apropos unterstützen: Florian Opahle an der Gitarre brilliert und sticht mit Sound und Spielfreude heraus.
„Das war mal mein Hero. Wegen Ian Anderson habe ich selbst angefangen, Musik zu machen“, sagt Christian aus Bonn, der neben mir steht und fassungslos auf die Bühne schaut, als schon nach etwa zehn Minuten das Drumsolo startet und Anderson hinter der Bühne verschwindet. Bei „A Song for Jeffrey“ wird ein Megaphon-Effekt auf Andersons Mikro geschaltet, bei Beggar’s Farm droht die zittrige Stimme fast wegzubrechen, der Song wird durch kraftvolles Piano und eine fantastische Gitarre gerettet.
Bei „Bourrée“ gibt es den ersten großen Applaus
Ersten wirklich großen Applaus vom Publikum bekommt Anderson bei der Bachadaption „Bourrée“, mit der Tull damals auch in Amerika Fuß fassen konnte. Hier scheint Anderson befreiter, springt und reckt sich auf der Bühne, summt und brummt in seine Querflöte bis es am Schluss zu einem wilden Ausbruch kommt. Ab da erleben wir Anderson als hervorragenden Instrumentalisten – so auch in „Sweet Dream“ und „My God“.
Erinnern wir uns: „Thick as a Brick“ war in seiner progressive-rockigen Komplexität fast barock und hat uns mit seiner Musikalität umgehauen. Hier brechen Anderson leider die Ziegel weg. Das Programm lässt nahezu keine Phase aus, und Anderson führt durch das Programm wie ein routinierter Radiosprecher – professionell, aber ohne echten Kontakt zum Publikum.
Ian Anderson muss weiß Gott keinem mehr etwas beweisen, aber er ist halt ein Alphatier, das sich nichts sagen lässt.