Sein legendäres Album „The Köln Concert“ (aufgenommen in der Kölner Oper am 24. Januar 1975) ist mit mehr als 3,5 Millionen verkauften Exemplaren das erfolgreichste Soloalbum der Jazz-Geschichte. Dabei wäre es fast nicht zu dieser Aufnahme gekommen. Jarrett hatte die Nacht zuvor kaum geschlafen, war mit dem Auto, einem klapprigen R4, aus der Schweiz angereist. Und dann stand da auch noch dieser fürchterliche Bösendorfer-Stutzflügel und nicht der, den sich der Maestro für diesen Konzertabend ausgesucht hatte! Er war verstimmt, die Pedale hakten und einige Tasten klemmten. Keith wollte nicht. Als dann auch noch sein Essen zu spät angeliefert wurde, war es aus … wenn ihn nicht Vera Brandes noch überredet hätte. Die heute erfolgreiche Musikproduzentin war damals eine 18-jährige Schülerin, die „nebenher“ Konzerte veranstaltete. Ihr verdankt die Musikwelt eines der schönsten Alben der Jazzgeschichte.
Im WDR3-Interview beschreibt Vera Brandes die Situation: „Ich sah, dass mein Bruder, den ich als Fahrer engagiert hatte – mit dem Auto meines Vaters -, mit Jarrett abfahrbereit im Hof stand. Mein Bruder musste aussteigen, um die Schranke aufzumachen. Und den Moment habe ich genutzt, bin die Treppe runtergerast, hab die Beifahrertür geöffnet und Jarrett überzeugen können, doch aufzutreten. Er sagte: ‘It’s okay, I play. But never forget: Just for you!’
Am 8. Mai 2015 wird Keith Jarrett 70 Jahre alt, und sein Label ECM bringt an diesem Tag gleich zwei neue Alben des Pianisten heraus. Und sie zeigen die unterschiedliche Facetten dieses beachtlichen Künstlers. „Creation“ enthält Musik aus sechs improvisierten Solokonzerten, die der Pianist 2014 in Tokio, Toronto, Paris und Rom gab.
Auf „Samuel Barber/Béla Bartók“ steht hingegen der geistreiche Interpret klassischer Werke im Fokus. Aufgenommen bereits Mitte der 1980er Jahre, spielt Jarrett – mal begleitet vom Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken unter Dennis Russell Davies, mal vom New Japan Philharmonic unter Kazuyoshi Akiyama – Klavierkonzerte von Barber und Bartók.
Bereits erschienen ist gerade im Rowohlt Verlag eine neue Biographie. Wolfgang Sandner, früher FAZ-Musikredakteur, hat sich dafür mehrfach mit dem medienscheuen Star zu intensiven Gesprächen getroffen.
Der italienische Fotograf Roberto Masotti stellt Jarrett in einem neuen Band mit Aufnahmen von 1969 bis 2011 vor.
Wenn Jarrett auftritt, dann beherrscht er den Raum, seine Musik ist greifbar, trifft den Zuhörer unmittelbar. Es gibt nicht viele Musiker, die ihr Innerstes so öffnen, wie es Jarrett tut. Die „Köln Konzerte“ sind ein Beispiel dafür. Einen ganzen Konzertabend alleine auf der Bühne und komplett improvisieren! Das muss ihm erst mal einer nachmachen.
Wer zu so was fähig ist, wer dazu bereit ist, der öffnet seine Seele. Und Jarrett ist ein ebenso intelligenter wie einfühlsamer Pianist, der sich aus allem bedient, was ihm die Musik bietet: Klassik, Jazz, Weltmusik, Gospel, Free und Rock.
„Ich bin mein gnadenlosester Kritiker, wenn ich auf der Bühne bin“, sagt er von sich, Aber von seinem Publikum erwartet er genauso viel Disziplin, Respekt und Hingabe wie von sich selbst. Unruhe, ein Husten, ein leuchtendes oder gar klingelndes Handy oder Blitzlicht können ihn aus der Fassung bringen, ja er rastet geradezu aus, droht, das Konzert abzubrechen, er flucht und beschimpft auch schon mal sein Publikum. Seine Konzerte sind so legendär wie berüchtigt. Und so war auch Downbeat-Autor Dan Ouellette ziemlich überrascht, als er Jarrett vor zehn Jahren in seinem Haus in New Jersey besuchte und einen völlig anderen Menschen anzutreffen glaubte. „Viele verehren Keith Jarrett für seine Brillanz, aber viele denken auch: Das ist kein Typ, mit dem ich meine Zeit verbringen möchte.“
Keith Jarretts Solo-Konzerte sind beispielslos, und das nicht nur in der Jazzgeschichte, sondern auch in der gesamten Geschichte des Klaviers. Sie sind nicht bloß auswendige Reflektionen von komponierter Musik, sie sind nicht mal eine Reihe von Variationen über Themen. Es ist über lange Strecken eine einzige Improvisation, man wird Zeuge eines Schaffensprozesses, bei dem alles von Grund auf entwickelt wird: Rhythmen, Themen, Strukturen, Harmoniefolgen und Texturen. „Vor einem Konzert versucht sich Jarrett aller vorgefassten Meinungen zu leeren und lässt dann die Musik durch und aus ihm heraus fließen“, beschrieb es mal der schottische Trompeter Ian Carr.
Tatsächlich ist Jarrett einer, der es verabscheut, ausgetretene Pfade zu gehen. Er liebt es, sich und das Publikum zu überraschen. „Ich will kein Opfer meiner Vorlieben werden“, formulierte er es einmal. „Manchmal schaue ich meine linke Hand an und sage: Ich werde dich jetzt aus dem Käfig lassen. Hast du mir vorher noch etwas zu sagen?“
Es ist diese Liebe nach Freiheit, nach unbedingter Kreativität, die kein Ziel kennt, das die Musik von Keith Jarrett so besonders macht, der ständige Wunsch, die Stimmung des Augenblicks festzuhalten. „Wenn ich ein Geheimnis habe“, sagte er einmal, „dann ist es ein Lebensmotto: Habe niemals einen Plan.“
(Cem Akalin)