Grauer Anzug, grauer Hut. Der schmächtige Mann mit dem traurigen Gesichtsausdruck ist Erik Truffaz. Hinter ihm wirkt die WDR Big Band wie ein mächtiges Heer von kämpferischen Musikern. Die Trompete scheint wie aus dem Nebel aus der Ferne zu kommen. Sanft und doch so unabwendbar, wie der Bug eines Tankers.
„El Tiempo de la Revolution“ wirkt auf dem Album weniger dramatisch als beim Arrangement von Stefan Behrisch. Überhaupt hat der Dirigent des Kölner Orchesters so manches aus Truffaz wehmütiger Brillanz und seinen wohldosierten sphärischen Kompositionen oftmals einen auf Effekte zielenden Soundtrack gemacht. Zu viel James Bond, zu wenig François Truffaut. Doch dem Publikum gefiel`s, und auch Truffaz sagte hinterher, er sei sehr glücklich mit den Arrangements gewesen.
Truffaz ist eh ein äußerst höflicher Mensch, ein bescheidener Musiker, der es offensichtlich nicht besonders liebt, immer im Mittelpunkt zu stehen. Das zeigte er auch darin, dass er vielen aus dem großartigen Ensemble Raum für ausgedehnte Soli gab: Johan Hörlen greift mit dem Sopransaxofon auf „Bending The Corners“ Truffaz‘ schreiend-extatisches Solo auf und wirbelt es noch eine emotionale Stufe höher, Paul Heller spielt auf „Miss Kaba“ ein sehr an Michael Breckers kräftige Stimme erinnerndes Tenorsaxofon, Karolina Strassmayer gibt sich auf „Trippin‘ The Lovelight Fantastic“ leidenschaftlich, fast ein wenig psychedelisch am Altsaxofon, die zierliche Posaunistin Shannon Barnett überzeugt mit kraftvollen Statements.
Truffaz zeigt seine ganze Stärke, sein Ton liegt irgendwo zwischen Chet Baker und Miles Davis: Diese rauchige, manchmal fast gehauchte Trompetenstimme, die kurz hingeworfenen, laut aufschreienden Phrasen, sind von einer nocturnen Einsamkeit, in der die Lichter Hoffnung ausstrahlen. Er lässt den Ton tänzeln, krächzen, klagen oder hin und wieder einfach für sich stehen, lange ausschwingen, um dann wieder aufzusteigen. „Avant l’Aube“ ist so ein Stück, das von sich aus schon eine perlende Grundmelancholie hat, Behrisch hat dem eine Spur zu viel draufgesetzt – passagenweise schon hart am Kitsch.
Dagegen hat Behrisch bei „Ghost Drummer“ ganze Arbeit geleistet. Diese raffiniert gegenläufig gesetzten Bläsersätze, die wie zum Gipfeltreffen der Trompeter aufpeitschenden kurzen Soli, Paul Shigiharas rockige Gitarrenfeuer, der spektakuläre Schlusspunkt: alles richtig gemacht. Nach dem so vielschichtigen „La Vie Continue“, das einem Showdown der Bläserkrieger in Domingo gleichkommt, gibt es im Publikum zu recht kein Halten mehr. Tosender Applaus. Zur Zugabe gibt es „Akiko“. Anderthalb Stunden musikalische Delikatessen.
Nach so vielen emotionalen Ausbrüchen hat es das exzellente Franco Ambrosetti Sextett nicht einfach – vor allem bei einem Publikum, das wohl eher wegen der Schönklänge eines Erik Truffaz gekommen ist. Nach glänzenden 75 Minuten gibt ein Großteil des Publikums der Band keine Chance mehr für eine Zugabe und steht mitten im Applaus auf. Schade. Denn, was diese erstklassige Band da ablieferte, war Hardbop, wie es ihn beim Jazzfest noch nicht gegeben hat.
Schon die Besetzung ist von erlesener Exklusivität: Franco Ambrosetti gilt in der Jazzszene schon seit Jahrzehnten als einer der besten Trompeter Europas. Für sein aktuelles Projekt „After The Rain“, eine Hommage an John Coltrane, holt er sich die legendären Musiker Greg Osby (Altsaxophon), Buster Williams (Bass) und Terri Lyne Carrington (Schlagzeug). (s.a. Dianne Reeves)
Dado Moroni ist einer der gefragtesten italienischen Jazzpianisten und spielte schon mit Leuten wie Clark Terry, Freddie Hubbard, Bud Shank und Ron Carter. Gianluca Ambrosetti ist promovierter Physiker und Nanotechnologe. Normalerweise leitet er die Forschungsabteilung der Airlight Energy Holding, ist aber ein ausgezeichneter Sopransaxofonist – was er an diesem Abend mal wieder unter Beweis stellt.
Den Opener machte das Titelstück des aktuellen Albums „After The Rain“, ein sich im Geiste Coltranes sehr behutsam aufbauendes Stück. „Retro versus New Age“ hat der 73-jährige Ambrosetti das nächste Stück genannt. Über einen galoppierenden Rhythmus setzt Ambrosetti, der zurzeit mehr das Flügelhorn spielt als die Trompete, ein arabesques Thema. Es beginnt brüchig, fast zögernd, steigert sich dann aber in flüssige, dichte Strukturen.
Wenn Greg Osby spielt, dann um auf den Punkt da zu sein. Den Altsaxofonisten hört man aus tausend Musikern heraus. Diese geradezu an Thelonious Monk erinnernden Läufe, verschachtelt, manchmal geradezu grotesk, dann wieder so elegant, prickelnd wie ein Glas Champagner. Der Mann wiederholt sich nie, Floskeln sind ihm ein Graus.
Gianluca hat sich Coltranes Geist offenbar so sehr zu Eigen gemacht, dass er in seinem Sturm kaum aufzuhalten ist. Jedes Solo endet mit einer offenen Frage: Er hätte wohl noch sehr viel mehr zu sagen gehabt. Sagenhaft!
Buster Williams ist eine Legende und ein wandelndes Jazzlexikon, und so spielt er auch. Beispiellose, fast mystische Bassläufe, er verknüpft Techniken, Stimmungen, Sounds als wär’s nichts. Übrigens: In kaum einem anderen Saal wie hier in der Bundeskunsthalle klingt der Bass so voll, so präsent, dass es eine Freude ist.
Terri Lyne Carrington ist eine so zauberhafte Schlagwerkerin, die das Talent und die Berufung hat, sich auf jedes Solo empathisch einzufühlen.
Beim Schlussstück „Circularity“ spielen sich alle nochmal die Seele aus dem Leib, und Moroni geht so ab, dass sogar der Flügel abhebt. Ein traumhaftes Konzert.
(Cem Akalin)