65 Minuten brauchte Iiro Rantala am Samstagabend, um beim Jazzfest Bonn im Beethoven-Haus mit dem Galatea Quartett die Bandbreite seiner Gemütslage und seiner Ausdrucksmöglichkeiten zu präsentieren. Ein Abend mit dem finnischen Pianisten ist niemals langweilig – und vor allem oft recht humorvoll.
Von Dylan Cem Akalin
Wenn ein kraftvoller und für Grenzen sprengender nonkonformistischer Pianist wie Iiro Rantala einen Musikabend mit einem Ragtime eröffnet, dann ist man zunächst einmal leicht irritiert. Natürlich spielt ihn Rantala nicht durchgängig traditionell. Da kommen überraschende Wendungen und wilde Aufwallungen, für die er die ganze Breite der Tastatur in Anspruch nimmt. Dennoch: „Another Ragtime“ ist nicht das, was man mit einem kompromisslosen Starpianisten der europäischen Jazzszene verbindet. Doch das sei nun mal seine Art, seine unbändige Freude über das Livespielen vor Publikum auszudrücken. Dieser Ragtime bringe seinen Kreislauf in Schwung und sprenge die Grenzen seiner Fitnessuhr, sagt er augenzwinkernd.
Es sei einfach großartig, mal wieder vor lebendigen Menschen zu spielen und nicht vor der Web-Kamera für ein Streaming-Konzert. Tatsächlich habe er während der Pandemie vorwiegend für sich selbst gespielt. Im vergangenen Winter habe er einen Tiefpunkt erreicht. „Ich wurde richtig traurig, weil ich dachte, diese Pandemie geht niemals zu Ende.“ In dieser Stimmung habe er „Peace“ geschrieben, eine Ballade, die die skandinavische Melancholie mit klaren, doch sachte gespielten Tönen treffend beschreibt. Rantala zeigt sich hier als verletzbaren Idealisten mit untrüglichem Ausdruck für magische Momente.
Leider gab es an diesem Abend nur diese zwei Soloperformances. Den Rest des Abends bestritt der Meister mit dem schweizer Streichquartett Galatea. Im Zusammenspiel mit dem Quartett besteht da wenig Raum für Kompromisslosigkeit. Da geht es mehr um Eleganz, um die großen Gesten, um Räume. Die Werke haben die Struktur von Filmmusiken, mit vielen liebevollen Details und melodischen Bogen. „Anyone With A Heart“ ist wohl unter dem Eindruck von Franz Schubert-Liedern und Jean Sibelius entstanden. Die kindlich-unbeschwerte Melodie wird von Streichern mal elegisch, mal pizzicato begleitet, und auch solistisch aufgegriffen.
Dass Rantala die Saiten seines Flügels mit einem Handtuch zusätzlich dämpft, ist den schnellen, belegten Läufen bei „Freedom“ geschuldet. Das von Jonathan Franzens gleichnamigem Roman inspirierte Stück zeigt die technische Finesse des Pianisten, aber auch die hohe Qualität des Quartetts, das die komplizierten rhythmischen Figuren, die Variationen, Tempo- und Harmoniewechsel erstklassisch umsetzt. Dieses Werk ist ein Hochgenuss für Musikfreunde, die gleichsam filigrane Kompositionen und virtuose Meisterleistung zu schätzen wissen.
Dagegen ist „Hard Score“ sowas wie ein barocker Metal, und Rantala ist ein Konstruktivist unter den Jazzern. Erkenntnis und Wirklichkeit bestehen für sich aus unterschiedlichen Kontexten und Elementen, die Musik wird aus seinem eigenen Erleben erst zusammengesetzt. Die reale Musik wird von Rantala ständig aufs Neue konstruiert und angepasst. Das fällt bei dieser Aufführung auf – vor allem, wenn man die auf Platte festgehaltenen Versionen dem jetzt Erlebten gegenüberstellt. Die Philosophen sagen ja, dass ein erkannter Gegenstand vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. Genauso ist es bei der Musik von Rantala. Übrigens wunderbar welchen berechtigten Raum er der ersten Violonistin Yuka Tsuboi zugesteht. Ein unglaublich toller Konzertmoment.
Dagegen waren die Tango-Arrangements, die das Quartett allein präsentierte sicherlich interessant, aber ich hätte lieber etwas mehr von Rantala gehört, zumal er gerade in eine wunderbare kreative Phase eingetaucht war.
Dafür gibt es später eine schöne Bearbeitung von Mozarts 3. Satz (Allegro vivace) aus dem 21. Klavierkonzert in C-Dur, in den er im Improvisationsteil auch eine kleine Anmutung eines Ragtimes einbaut. „Happy Hippo“ hat wieder diese fast nostalgische Stimmung einer Filmmusik zu einem alten Doris-Day-Streifen. Wunderbarer Schlusspunkt: „Tears for Esbjörn“. Einfach wahnsinnig schön.