Von Dylan C. Akalin
Mit Olaf Rupp und Julia Kadel präsentiert das Jazzfest Bonn am Sonntagnachmittag zwei Vertreter der improvisierten Musik mit unterschiedlichen Ansätzen. Hier der völlig in sich gekehrte, fast asketische Gitarrist, dort die Pianistin, die sich von ihrer emotionalen Intelligenz leiten lässt.
Wer sich mit Olaf Rupp beschäftigt, erfährt schnell, dass der 1963 in Saarlouis geborene Sprachwissenschaftler ein Typ ist, der für sein Ideal der Kreativität lebt. Der Tag beginnt mit zwei Stunden Meditation und mehreren Stunden Gitarre üben, erfährt man aus Interviews. Das klingt nach einem von Askese und Strenge geprägten Lebensstil. Da kann man es mit der Angst bekommen vor Ehrfurcht. Als Rupp dann mit weiten schwarzen Hosen und T-Shirt den Kammermusiksaal im Beethovenhaus betritt, fällt zunächst das freundliche Lächeln in den eher weichen Gesichtszügen auf. Ich bin erleichtert. Doch die nächsten 46 Minuten wird er kein einziges Mal mehr den Blick erheben. So in sich gekehrt ist er.
46 Minuten lang versetzt uns Rupp in eine Art meditatives Koyaanisqatsi. Wie uns einst Philip Glass und Godfrey Reggio mit bildgewaltigen Filmaufnahmen die Widersprüche der menschlichen Existenz und der Natur vermittelten, schafft es Rupp ganz ohne Worte in uns selbst Bilder zu erzeugen. Ich habe die Angewohnheit, mich, besonders in unangenehmen Situationen, etwa in einer MRT-Röhre oder bei extremen Verspätungen von Flügen oder Bahnen, aus meinem Körper wegzudenken und in Gedanken eine besondere Strecke abzufahren oder einen Landstrich minutiös zu durchwandern. So ähnlich empfinde ich es hier auch.
Olaf Rupp ist ein Meister der Collagentechnik, vielleicht sogar ein Magier mit unsagbaren Fähigkeiten, Teile mehrerer Kompositionen in seinem Kopf zu zerlegen und nach Belieben zusammenzusetzen. Bisweilen hat man fast den Eindruck, die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut, bis man die fließenden Bewegungen sieht, mit denen Rupp mit der Fingernageloberfläche jedes einzelnen Fingers der Rechten rieselnde Klänge erzeugt, während die Linke metallisch über die Saiten schleift. Das Chaos hat Struktur, und die Dissonanz Bedeutung.
Die Akustikgitarre hält er aufrecht wie eine chinesische Laute, er sei von Pipa-Spielern inspiriert worden, sagt er in einem Interview. Nicht nur aus dem fernen Osten klingen Tonfetzen aus dem Spiel. Bald wissen wir, dass Rupp Flageolettöne mag, diese künstlichen Obertöne, die Rockgitarristen artificial Harmonics nennen und auch gerne mal anschlagen.
Schon zu Beginn malt Rupp Bäche, Flüsse und raue, düstere Klippen, mit großer Gestik baut er wildes Rauschen auf, aus dem pointierte Obertöne wie gluckerndes Wasser auf den dunklen Granit spritzen. Der Mann jagt wie im Rausch durch ein Nirwana, das irgendwo zwischen der spanischen Sierra, malerischen Südtiroler Dörfern, den tosenden Stadtschluchten Shanghais und der mongolischen Steppe liegt, nur wenige Takte voneinander entfernt. Da schält sich gar mitunter eine Andeutung einer barocken Melodie, einer mongolischen Flöte oder spanischen Tanzgruppe heraus.
Nach 17 Minuten greift er zum Bogen. Es klingt nach Stahl, dann wieder nach einem Knarren einer uralten Eichentür, dann nach fernen Wassertropfen in einer kalten Höhle. Bei Minute 30 ist plötzlich Stille. Eine lange Sekunde lang. Nicht mal das Atmen des Sitznachbarn ist zu hören.
Am Ende wieder ein wildes Aufbäumen, im Wirrwarr der Klänge ist eine schwache Tonfolge erkennbar, nur kurz. Und dann wieder Stille. Rupp verharrt in sich gekehrt wie nach einer religiösen, vollkommenen Erfahrung. Dann blickt er ins Publikum und lächelt. Riesiger Applaus.
Julia Kadel
62 Minuten, die immer besser werden. Der Start von Julia Kadels Soloprogramm am großen Flügel beginnt zunächst etwas zerfasert. Wer die Künstlerin kennt, weiß, dass das zu ihrer Herangehensweise gehört. Die Suche nach dem richtigen Vokabular, wie sie mir es mal in einem Interview vor sieben Jahren erklärte. Es ist, als würden wir als Publikum bei ihr im Atelier sitzen und ihr dabei zuschauen, wie sie an einem neuen Stück experimentiert. Spannend, wie aus dem Stolpern, aus dem Ausforschen ihres Inneren dann plötzlich ein fließender Strom wird.
Tatsächlich, sagt sie dann, wolle sie neben einigen bekannten Kompositionen auch experimentelles Repertoire präsentieren. Das zweite Stück erinnerte mich in der dramatischen Verknüpfung von klassischen Elementen mit dem Jazz und den wiederholenden Arpeggien irgendwie an den Keyboarder Keith Emerson.
Ganz Julia Kadel waren die drei Teile zu „Distant Liebe“, eine Trilogie über die „transformative Kraft der Liebe zwischen den Welten“, wie sie es selbst ankündigte, eine Mischung aus rollenden Sounds, hüpfenden Melodietraktaten mit zum Teil mehr gesprochenen als gesungenen Zeilen. Songs über die Schmerzen einer Fernbeziehung, in der man weder selbst genug Liebe bekommt noch selbst geben kann. So wie sich bisweilen melodische Bögen entwickeln können, entfalten sich Sätze aus Wortspielereien: „Ich kenne dich in meiner Seele/Dein Herz kennt mich.“ Das alles formt sich um ein abstraktes, tänzelndes, melancholisches Spiel, so schön wie ein regnerischer Tag am Strand.
Fast unhörbar beginnt ein Stück, das noch den Arbeitstitel „You“ trägt und sich in starken spannenden Akkordfolgen entlädt. „Powerful Vulnerability“ wiederum kennt man von ihrem gleichnamigen aktuellen Trio-Album, ein Stück, in dem die linke Hand dramatische Akzente setzt. „Empathy Piece With a Cello“ ist für mich der stärkste Moment des Abends. Nervöse Tupfer aus Schwarz-Weiß vernebeln in einem Hämmern, das so intensive Ausmaße annimmt, dass man meint, da spielt tatsächlich ein Cello aus dem Hintergrund einen unterschwelligen Dauerton. Das Stück hat alles für diesen Live-Moment. Vielschichtige Klangfiguren, fantastische und ideenreiche Improvisationsparts, einen spannungsreichen Bogen in der Struktur – und ganz viel Emotion auf der Bühne. Kein Wunder, dass das Publikum nach dieser Performance eine Zugabe erklatschte.