 
Zwei Werke, zwei Welten, ein Universum – und ein Künstler, der Klang in Poesie verwandelt: Der italienische Komponist, Bassist und Dirigent Roberto Bonati erforscht in seinen jüngsten Projekten die Extreme musikalischen Ausdrucks. In „Si erano vestiti dalla festa“ erinnert er mit großem orchestralen Atem an den Widerstand von Parma 1922 – ein kraftvolles Klanggemälde aus Geschichte, Emotion und politischer Haltung. In „The Gesture of Sound, The Gesture of Colour“ dagegen öffnet Bonati den Raum für improvisierte Gesten, Klangfarben und Live-Malerei – ein Dialog zwischen Musik und Bild, zwischen Kontrolle und Freiheit. Beide Arbeiten zeigen einen Musiker, der den Jazz als grenzenlose Kunstform versteht – und den Hörer in eine Welt entführt, in der Erinnerung, Geste und Farbe ineinanderfließen.
Von Dylan Akalin
Roberto Bonati, 1959 in Parma geboren, gehört zu den eigenwilligsten und zugleich poetischsten Stimmen des italienischen Jazz und der neuen Improvisationsmusik. Als Kontrabassist, Komponist, Dirigent und Gründer des ParmaFrontiere Festivals hat er sich über Jahrzehnte einen Namen gemacht, der weit über die Grenzen Italiens hinausreicht. Seine Musik bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen Komposition und freier Klangforschung, zwischen kultureller Erinnerung und experimenteller Gegenwart.
Bonati denkt den Jazz als offene Kunstform, die Raum für orchestrale Dichte ebenso lässt wie für Stille, Geste und Farbe. Seine Arbeiten – ob historische Klanggemälde wie „Si erano vestiti dalla festa“ oder gestische Experimente wie „The Gesture of Sound, The Gesture of Colour“ – sind Ausdruck einer tiefen humanistischen Haltung: Musik als Sprache des Dialogs, der Freiheit und der poetischen Reflexion.
„Si erano vestiti dalla festa“
Erscheinung: Oktober 2024 (laut Bandcamp: 5. Oktober 2024)
Interpretation & Anlass: Bonati richtet mit diesem Werk einen Blick zurück – auf die Barricate di Parma 1922, also den Aufstand der Bürger*innen von Parma im August 1922 gegen faschistische Gewalt. Erste Aufführung war laut Angaben im Rahmen des ParmaJazz Frontiere Festival am 23. Oktober 2022 im Teatro Farnese, Parma.
Bonati verfolgt dabei einen bestimmten konzeptionellen Ansatz: Er komponiert hier eine Suite für das Ensemble ParmaFrontiere Orchestra, bei der er historische, politische und lokale Bezüge miteinander verbindet. Es geht um Erinnerung, um das Festhalten von Widerstand, um Anteilnahme – musikalisch wird ein Narrativ erzeugt: „Sie hatten sich zur Feier angekleidet“, heißt der Titel – ein ironischer, resignierter oder auch ehrender Blick auf eine historische Tat, auf eine Zeit, in der Menschen sich formierten, Widerstand leisteten, ihre Nebeneinander-Gegenwart in Zeilen wie „Vincenti per tutta la vita“ („Siegreich für das ganze Leben“) bewusst machen.

Die einzelnen Stücke – „Prelude Barricate“, „Oltretorrente“, „Marionette nere“, „Barricate“, „Vincenti per tutta la vita“, „Arditi“ – führen vom Vorspiel zur Straßenschlacht, zu Reflexionen, zu Held*innen und Erinnerung, erklärt Bonati selbst auf Bandcamp.
Die Musik greift orchestrale Mittel, Soli, Stimmen, Texte im Dialekt oder mit historischem Interviewmaterial (z. B. ein Interview mit Orazio Bortesi) – also eine Mischung aus Komposition, Erinnerungsdokument und musikalischem Statement.
Klangbilder des Widerstands
In dieser Arbeit zeigt Bonati seine Fähigkeit, große gesellschaftliche Themen zu verhandeln – nicht als abstraktes Konzept, sondern konkret im Ort, in der Geschichte von Parma. Die Musik wirkt programmatisch, fast filmmusikalisch – „Marionette nere“ etwa wird von Kritik als martialisch, zugleich lyrisch beschrieben: „One hears martial drums but there are also moments of quite gorgeous lyricism.“
Die Orchestersätze zeichnen Klangbilder von Widerstand, von urbanem Terrain („Oltretorrente“ als Stadtteil), von Gemeinschaft und Erinnerung. Die Wahl, Stimmen historisch zu verankern („Barricate“ mit Interviewfragment) macht die Musik nicht nur künstlerisch, sondern dokumentarisch.
Als Schwäche könnte man anmerken, dass Programm-Musik dieser Art immer Gefahr läuft, überdeutlich zu sein – und die Grenzen zwischen Kunstwerk und Gedenkakt verschwimmen. Aber in Bonatis Fall erscheint das bewusst und überzeugend umgesetzt.
„The Gesture of Sound, The Gesture of Colour“
Erscheinung: 24. Oktober 2024
Aufnahme: Konzert am 16. Oktober 2022 in der Abbazia di Valserena bei Parma (CSAC) mit dem Ensemble Chironomic Orchestra unter Bonatis Leitung.
Hier betreibt Bonati radikal eine andere Form von Musik: improvisierte Orchesterarbeit, gesteuert durch Gestik („chironomy“ = Handzeichen, geleitetes Orchester) in Verbindung mit Live-Malerei von Henning Bolte, die die Musik visuell reflektiert und begleitet.

Die Idee dahinter: Ein Ensemble von Instrumentalist*innen reagiert in Echtzeit auf dirigierende Zeichen, auf Bewegungen – keine streng vorgefertigte Partitur im klassischen Sinne, sondern eine Art gesteuertes Improvisations-Setting. Gleichzeitig entsteht eine visuelle Projektion der Malerei, die mit dem Klang interagiert.
Die Musik trägt den Titel „The Gesture of Sound, The Gesture of Colour“ – also klar die Verbindung zwischen Klang-Geste und Farb-Geste. Der Raum (Abbazia di Valserena) wird zum Bildraum, Klangraum, Bild-Klangraum.
Radikale Offenheit
Dieses Projekt vermittelt eine radikale Offenheit – Bonati riskiert hier, dass das Ergebnis nicht vorhersehbar ist. Gerade in Zeiten, in denen Komposition und Interpretation oft getrennt sind, zeigt er: Regie, Gestus, Spur, Farbe, Raum – all das kann im Moment entstehen. Für den Hörer/Betrachter heißt das: Aufmerksamkeit geboten, Mitdenken gewünscht.
Die visuelle Komponente macht das Werk über das Hörbare hinaus erlebbar: Klang und Farbe verschränken sich, die Gestik des Dirigenten wird Teil der Partitur. In einer Rezension heißt es, dass man sich „in den hier dargebotenen Klangfarben und Texturen verlieren könne“. Das Ergebnis ist weniger „Programm“ im klassischen Sinne, sondern Erlebnis – „Musik aus dem Augenblick“, wie Bonati selbst suggeriert: „…un’improvvisa salto nell’ignoto, nella creazione fragile ed irripetibile della Improvised Chironomy.“, heißt es auf oltrelecolonne.it
Der große Gewinn liegt hier im Experimentellen – wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt: Klangwelten, Bewegung, visuelle Resonanz. Andererseits fordert das Werk: Aufmerksamkeit, Loslassen gewohnter Strukturen, Offenheit gegenüber Unvorhergesehenem. Für manche Hörer könnte das zu abstrakt sein, zu wenig Orientierung bieten. Aber gerade das macht den Reiz aus.
