Eric Bibb hat viele verschiedene Amerikas kennengelernt, das gute, das schlechte und das hässliche. Geboren am 16. August 1951 in New York City, hat er den Boom um das Sixties-Folk Revival hautnah miterlebt. Diese Ära ist in der Erinnerung des 69-Jährigen so lebendig, dass er sich noch immer an den Idealismus in der Nachtluft von Greenwich Village erinnern und Bob Dylan in seinem Wohnzimmer stehen sehen kann. Doch ebenso lebendig sind die dunklen gesellschaftlichen Brennpunkte des letzten Jahres, als Demonstranten die offene Wunde der US-Rassenbeziehungen hervorhoben, während eine bittere Präsidentschaftswahl das Land zerklüftete.
Bibb ist ein wortgewandter und geschichtlich bewanderter Weltbürger, dessen US-Mutterland – mit all seinem Schmerz und seiner Schande, seiner Hoffnung und seinen Wundern – zu jeder Zeit in seine Kunst eingeflossen ist, seit sein Debütalbum Ain’t It Grand von 1972 ihn als neue Kraft im Blues, Folk und jedem anderen Genre, das ihm am Herzen lag, bekannt machte. Aber der Grammy-nominierte Singer-Songwriter hat sich vielleicht noch nie mit solch fokussierter Eloquenz an die Vereinigten Staaten gewandt – oder sich selbst ins rechte Licht gerückt – wie auf Dear America. „Auf dieser Platte sage ich all die Dinge, die ich jemandem sagen möchte, der mir am Herzen liegt“, sagt Bibb über sein neues Album. „Aber es ist auch eine Art Selbstporträt.“
Wenn Du deinem Land zurufen könntest, was würdest du sagen? Als Eric Bibb sich an den Titelsong des Albums Dear America machte, packte der Songwriter seine 7 Jahrzehnte andauernden Erfahrungen im Bezug auf die Beziehung aus, die er mit einem Partner mit dramatischen Extremen hat. „Es ist ein Liebesbrief“, erklärt er das Grundkonzept des Albums, „weil Amerika, trotz all seiner Assoziationen mit Schmerz und seiner blutigen Geschichte, immer ein Ort der unglaublichen Hoffnung und des Optimismus war. Amerikaner zu sein, und besonders aus New York City zu kommen, ist für mich ein Segen.“
„Die Definition von Liebe ist Wahrheit“, stellt der Songwriter fest. „Man muss es sagen, wie es ist. Es gibt so viel schockierenden Hass in Amerika an diesem Punkt, und diese Aggression und Gewalt ist wirklich Amerikas Geschichte, die wie am Gummiband zurück springt. Dieses Album ist eine echte Kommunikation, ein echter Versuch, meine Seele zu entblößen, Verletzungen zu heilen und dabei zu helfen, eine neue Welt hervorzubringen. Das ist es, worum es geht.“
Mit Dear America schließt sich für Bibb der Kreis, denn es trifft den Puls dieser fiebrigen Zeiten und bringt den Songwriter zurück zu seinen Wurzeln in New York. Als der Bandleader im November 2019 das Studio G in Brooklyn aufsuchte, um Dear America mit Produzent/Co-Autor Glen Scott, einer erstklassigen Studioband und Gästen wie dem talentierten Schlagzeuger Steve Jordan und der Gitarrensensation Eric Gales aus Memphis aufzunehmen, war die Elektrizität in der Luft spürbar. „Meine Heimat ist jetzt Schweden“, sagt Bibb, „aber in New York City bin ich aufgewachsen. Also dort zu sein und dieses Album aufzunehmen, das so viel mit meiner ganzen Reise zu tun hat – das war wirklich inspirierend.“
Schicksal ist ein flüchtiger Begriff, aber von frühester Jugend an wiesen alle Wegweiser bei Bibb auf ein weniger gewöhnliches Leben hin. Sein Vater, der verstorbene Leon Bibb, war der Urknall, der alles in Gang setzte: ein charismatischer Sänger, Schauspieler und Anführer der Männer, die ’65 mit Martin Luther King in Selma marschierten. Er bewegte sich in der Umlaufbahn von sozial inspirierenden Persönlichkeiten wie Bob Dylan und Paul Robeson (Erics Patenonkel). Diese Männer brachten das Ethos mit, dass Kunst mächtiger ist, wenn sie vom echten Leben durchdrungen ist. „Mein Vater war die Tür zu der Welt, in der ich lebe“, nickt Bibb, der im Alter von sieben Jahren seine erste Akustikgitarre in die Hand nahm und sie nie wieder weglegte. „Diese ganze Verbindung zwischen Musik und zukunftsweisenden sozialen Bewegungen war schon immer das Fundament. Ich habe nie ‚beschlossen‘, dass ich ein Autor von sozial pointierten Songs werden wollte. Es war in mir. Es muss einfach da sein. Ich schreibe, was ich sehe.“
Es gab auch andere frühe Berührungspunkte, jeder Einfluss ist immer noch ein Strang von Bibbs musikalischer DNA und treibt seine Musik weit über das Etikett „akustischer Blues“ hinaus, das nur an der Oberfläche kratzt. Er zählt eine verkürzte Liste auf: „Odetta, Judy Collins, Mavis Staples, Taj Mahal, Motown, Stax, Howlin‘ Wolf, Bobby Womack, Gabriel Fauré, John Coltrane… all das war von Anfang an dabei und fand seinen Weg in meine Musik. Aber die früheste Musik, die mich wirklich beeinflusst hat, waren Leute wie Lead Belly: diese Art von Songformen, diese Art von Stimmen, diese Art von Sprache. Woody Guthrie, weißt Du? Diese ganze Ära, in der sich Musiker vermischten, sowohl afro-amerikanische als auch nicht-amerikanische.“
Eric Bibb: Es ist ein Liebesbrief
Bibb schwänzte die Schule, um Platten aufzulegen, und brach sein Studium an der Columbia University ab, als der Ruf der Musik immer stärker wurde. Er schlug sich in den USA als Musiker durch – Sie haben ihn vielleicht schon überall gesehen, von der Hausband der TV-Talentshow Someone New bis zur Negro Ensemble Company am St. Mark’s Place. In Paris, Stockholm oder London: Er zog seinen Hut quer durch die Welt, seine musikalischen Antennen immer ausgefahren.
Der Vorkriegs-Blues ist ein prägender Farbton, aber Bibbs musikalische Palette war schon immer grenzenlos, seine unverwechselbare Stimme und sein forschender Geist zogen das Genre in kühne neue Richtungen. In den späten 90er Jahren ließ er sich bei Manhaton Records nieder – das er zusammen mit seinem ehemaligen Manager Alan Robinson gründete – und sein Katalog begann mit Klassikern wie Me To You von 1997 zu wachsen.
Dieses Album, auf dem sowohl Taj Mahal als auch Mavis Staples zu hören waren, zeigte auf, das die Pioniere bereit waren, Eric Bibb zum Hüter dieser Musik zu machen. „Ich könnte ein Buch über Taj schreiben“, lächelt Bibb. „Er war ein großer Einfluss. Und weißt du, Mavis, sie war ein echtes Leuchtfeuer.“
Dieser Appetit auf Zusammenarbeit ist vielleicht so etwas wie eine Konstante in dieser wunderbar unberechenbaren Karriere. Bibb arbeitet sehr gut aus eigener Kraft (als mehrfacher Gewinner der Blues Music Awards zögert er, ein Lieblings-Soloalbum herauszusuchen, obwohl Fans vielleicht für das aufregende Album Diamond Days aus dem Jahr 2006 plädieren würden).
Whole World’s Got The Blues
Dear America trägt das Gefühl einer Heimkehr in sich, ganz zu schweigen von dem deutlichen Eindruck eines Karrierehöhepunkts. Bei einem so vielsagenden Titel, meint Bibb, sollte der Inhalt besser passen, und der Songwriter gab sich den Freiraum, das stärkste Material seines Lebens zu schreiben und seine Traumband zu verpflichten. „Es war eine Art kosmisch orchestrierte Reihe von Ereignissen“, reflektiert er. „Ich war so froh, dass ich mit Ron Carter aufnehmen konnte, zu dem ich durch meinen Vater schon früh eine Verbindung hatte. Tommy Sims war bei den Sessions dabei, ein wunderbarer Bassist, mit dem ich schon in Nashville zusammengearbeitet habe. Ich habe mit vielen großartigen Schlagzeugern gespielt, aber Steve Jordan hat diese Autorität: Es geht einfach um den Beat, Mann. Was Eric Gales auf Whole World’s Got The Blues angeht – er war einfach erhaben, wahrscheinlich ist er zur Zeit der stärkste elektrische Blues-Spieler.“
Aufgenommen, bevor die Pandemie die Aufnahmestudios der Welt lahmlegte, ist die Chemie auf Dear America spürbar, und jeder Musiker spielt mit der emotionalen Hingabe, die das Material verlangt. Es gibt auch leichtere Songs, betont Bibb und verweist auf das wohlwollende Tuckern des Lokomotiv-Themas Talkin‘ ‚Bout A Train oder den anmutigen Opener Whole Lotta Lovin‘ mit seiner herzlichen Hommage an die amerikanische Roots-Musik. „Es ist liebevoll und verspielt“, sagt er über letzteres. „Im Gegensatz zu dem schwereren Material, das folgt. Ich wollte, dass Whole Lotta Lovin‘ das Album eröffnet, denn wenn ich eine Sache an Amerika auswählen müsste, die ich für ein ungetrübtes und strahlendes Geschenk halte – ist es die Musik.“
An anderer Stelle, wenn Dear America sich entfaltet, halten diese Songs nicht hinterm Berg. Bibb, der schon immer ein Autor mit einem fließenden Gespür für Zeit und Ort war, gleitet zwischen den US-Bundesstaaten und Epochen hin und her und beschreibt die Vergangenheit und Gegenwart der Nation, im Guten wie im Schlechten. In dem wehmütigen Emmett’s Ghost lässt er den schrecklichen Mord an Emmett Till Revue passieren, dessen aufrührerischer Lynchmord im Jahr 1955 die Bürgerrechtsbewegung anheizte. „Der Song wurde vor dem George-Floyd-Fall geschrieben“, erklärt er, „aber ich habe das Gefühl, dass er gerade jetzt eine besondere Resonanz hat.“
Auf dem düsteren Whole World’s Got The Blues zeigt Bibb ein Gespür, um das Unbehagen auf der Straße in seinem Heimatland und darüber hinaus zu erfassen. „Man braucht nur die Nachrichten einzuschalten, und schon sieht man einen Konflikt nach dem anderen“, sagt er reumütig. „Ich spreche von gewaltsamen Konflikten, die man natürlich auch Global sehen kann.“
All die Leiden Amerikas
Und doch, so wie die menschliche Geschichte der Vereinigten Staaten sowohl Licht als auch Schatten hat, so ist Dear America eine Platte, die ihre Erkundung der giftigsten Themen der Nation mit Hoffnung, Liebe und einem helleren Weg in die Zukunft durchzieht. Es ist nicht alles verloren, betont Bibb, und wir sind es auch nicht. Als sich der Songwriter mit den fröhlichen und glühend optimistischen Schlusssongs Love’s Kingdom und Oneness Of Love verabschiedet, lässt er keinen Zweifel daran, dass die Zukunft von uns geschrieben werden muss. „Ich wäre kein Stadtschreier für schlechte Nachrichten“, sagt er, „wenn ich nicht denken würde, dass das Verbreiten schlechter Nachrichten ein Schritt hin zu guten Nachrichten ist.
„Dieses Album ist ein Liebesbrief“, sagt Bibb erneut, „denn all die Leiden Amerikas und der Welt können nur durch diese Energie, die wir Liebe nennen, in eine Art Heilung und Gleichgewicht kommen. Das ist meine Überzeugung. Man sieht jetzt junge Leute die sich zum Beispiel der Black-Lives-Matter-Bewegung anschließen. Es gibt eine Art Nachhall dieser Energie aus den Sechzigern. Man kann eine gute Sache nicht aufhalten. Jetzt sind wir in diesem ‚watch and pray‘-Moment, und es ist eine unglaublich inspirierende Zeit, um Songs zu schreiben…“