Bob Dylan ist wie ein Bruder, der hin und wieder mal aus der Ferne ’ne Postkarte schickt

Dylan-Alben

Bob Dylan hat so viele Ketten gesprengt, so viel in der Rockmusik aufgewiegelt, dass er jenseits gängiger Begriffe steht. Er ist sein eigenes Universum. Am 24. Mai 2016 wird er 75 Jahre alt – und er ist immer noch auf seiner „Never Ending Tour“. Er ist und bleibt eben ein Rolling Stone, der kein Moos anwachsen lässt…

Von Dylan Cem Akalin

Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Im Gegenteil. Meine ersten Begegnungen mit Bob Dylan hatte ich bei einem Gitarrenkurs in der Volkshochschule. Ich war wohl zwölf oder 13 Jahre alt. Die meisten anderen waren viel älter. Ein paar Studentinnen mit großen Brillen und sonst nur Hausfrauen. Wir lernten Stücke wie „We shall overcome“ oder eben „Blowing in the Wind“. D-Dur, G-Dur, A-Dur, D-Dur. Oh Mann, fand‘ ich das öde! Ich hab’s gehasst. Vor allem, weil ich ständig die Version von Peter, Paul and Mary im Ohr hatte, was im Radio wesentlich häufiger gespielt wurde, als Dylan.

Ich weiß nicht, meine Generation (Jahrgang 1958) hatte es nicht so mit Bob Dylan. Wahrscheinlich, weil er musikalisch nicht als Erneuerer galt. Ich war mehr damit beschäftigt, nach Musik zu suchen, die Horizonte öffnete, die die Gleichmacherei niederriss. Das fand ich in Rock und Jazz eher.

Meine Einstellung änderte sich schlagfertig, als ich mir aus Neugier „Highway 61 Revisited“ besorgte. Da war ich keine 16 Jahre alt. Ich kam über einen kleinen Umweg dazu. Ein Freund von mir, der großer Johnny Winter Fan war, spielte den ganzen Tag dessen Album ab, auf dem Winters Coverversion von „Highway“ war. Auch ein Hammerstück! Neben der irren Gitarre von Johnny Winter interessierte mich aber viel mehr der Text. Dieser irre Inhalt über eine Highway, auf der sich allerhand merkwürdige Gestalten tummeln, wo Gott Abraham umbringen will, wo Mack the Finger tausend Telefonapparate los werden will, die nicht mal klingeln können.

Und Dylans Originalsong haute mich noch mehr um. Das ganze Album. Ich glaube, dieser fiebrig-heiße Gesang mit dieser albtraumhaften Geschichte hat mich bis in meinen Schlaf verfolgt. Und dann war ja noch der berühmteste Song vom Album drauf: „Like A Rolling Stone“, auf dem Dylan seine Wut ausspuckt, aber nicht in der entrüsteten Art eines aus dem Affekt handelnden, streitsüchtigen jungen Mannes. Der Song hat so eine verwunderlich-zurückhaltende Energie, der ganze Song baut eine Spannung auf, dass der Zuhörer denkt, Mann, gleich flippt der komplett aus! Aber der Moment kommt irgendwie nicht. Ich habe das Stück damals immer und immer wieder, ich weiß nicht, wie oft hintereinander gehört.

Ja, das waren Songs, mit denen sich junge Leute identifizieren konnten, wie die Geschichte von dem reichen, verwöhnten Mädchen, das auf „verchromten“ Pferden daherkam und den Rumtreiber nicht mal bemerkte und eines Tages selbst so endet: „Wie fühlt es sich an, alleine zu sein, heimatlos, unbekannt, wie ein Landstreicher?“

Das ganze Album ist so voller Hingabe. Der „Tombstone Blues“ ist eine Brandung von einem Rocksong, „From A Buick 6“ hat einen dieser rätselhaften Texte. Er handelt wohl von den verschiedenen Seiten, die Frauen haben können. Er besingt die „graveyard woman“ vom Friedhof, die sein Kind trägt, die „soulful mama“, die ihn versteckt hält, und dem Engel vom Schrottplatz, der ihm Brot gibt. Dann ist noch „Just Like Tom Thumb’s Blues“, auch so eine völlig wirre Geschichte mit meiner Lieblingszeile: „Süße Melinda / Die Bauern nennen sie die Göttin der Finsternis“. Nicht nur musikalisch liebe ich „Queen Jane Approximately“. Ich habe erst sehr viel später mal gelesen, dass die gehässigen Zeilen über die besungene Frau, die hinter ihrer betulichen Glorie eigentlich ihre Einsamkeit versteckt, wohl an Joans Baez gerichtet seien.

Herrlich gehässig ist ja auch „Ballad Of A Thin Man“, über einen selbstherrlichen Kerl, der aber nicht so richtig durchblickt: „Because something is happening here/ But you don’t know what it is/ Do you, Mister Jones?“ Ich weiß nicht, wen er da gemeint hat. Auf dem Kunst!Rasen in Bonn hat er 2012 eine wunderbare Version des Stückes gesungen. Brian Jones von den Stones fühlte sich wohl damals ebenso angesprochen wie Joans Baez auch, die im Refrain nur ein Wortspiel mit ihrem Namen sah.

Ein Meisterwerk ist natürlich das elfminütige Epos „Desolation Row“: ein Song voller surrealer Bilder, in dem Einstein, als Robin Hood getarnt, seine Erinnerungen in einem Koffer herumträgt, in dem das Phantom der Oper „als perfektes Bild eines Priesters“ vorkommt, Ezra Pound und T. S. Eliot kämpfen im Turm des Kapitäns während Calypso Sänger über sie lachen. In diesem Text stecken unglaublich viel Fantasie, absurde Szenen und Metaphorik.

Na gut, seitdem darf der Mann mit der krächzenden Stimme machen, was er will. Sogar als er Mitte der 1970er Jahren zum Christentum konvertiert. Aber es ist ja genau das, was ich an ihm so schätze. Bob Dylan schert sich um nichts, um keine Trends, um keinen Druck von Fans oder Plattenlabels. Er ist ein permanenter Widerständler gegen Konventionen, gegen das Festgelegt-werden, gegen das Eingenommen-werden. Er ist eben der Tramp, der durch die Welt zieht und sich von niemandem an die Leine nehmen lässt. Martin Scorseses Filmtitel „No Direction Home“ passt ganz gut. Der Mann, der rastlos unterwegs – aber nie auf dem Heimweg ist. Was für eine Romanfigur!

Dylan, der der Folk-Szene schon recht früh den Rücken kehrte, um die Rockmusik zu revolutionieren, um der Rockmusik auch inhaltlich ein Bewusstsein zu geben, wollte nie die „Stimme einer Generation“ sein, aber seine Verehrer haben das ignoriert. Auch wenn Stücke wie „Blowin‘ in the Wind“ und „The Times They are A-Changin“ zu Hymnen der Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegung wurde, er wollte nicht vereinnahmt werden. Von keiner Seite. Auf „The Bootleg Series Vol. 4: Bob Dylan Live 1966 – The Royal Albert Hall Concert“, das ja eigentlich in Manchester aufgenommen wurde, ist diese berühmte Szene zu hören. Es war die Phase, wo Dylan nicht mehr nur mit der akustischen Gitarre begleitet auftrat, sondern die elektrische Fender umschnallte und rockte. Das Publikum ist entsetzt. Kurz vor „Like A Rolling Stone“ schreit einer laut „Judas!“ Dylan antwortet ruhig. „You don’t believe that. You’re a lier.“ Dann dreht er sich zur Band um, und sagt: “Play fucking loud.“

In seinem autobiografischen Werk „Chronicles“, das sich wie ein Roman liest, hat Dylan einiges über seine Anfänge in New York 1961, über seine Verehrung und Begegnungen mit Woody Guthrie erzählt, aber auch seine schwere Krise als ausgebrannter Rockstar in den 80er Jahren. Das Private bleibt ausgeblendet: Zwar gibt es ein Kapitel über die erste große Liebe Suze Rotolo, mit der er sich auf dem Cover von „Freewheelin'“ zeigte; weniger gibt es über Joan Baez, mit der er ja auch mal zusammen war, oder die Ehe mit Sara Lowndes (1965 bis 1977), aus der immerhin vier Kinder hervorgingen.

Aber besungen hat er Sara: in „Sad-Eyed Lady of the Lowlands“ 1966 und nach Überzeugung vieler Dylan-Kenner im Meilenstein „Blood on the Tracks“ 1975, in dem er die Trennung verarbeitete. Und natürlich auf „Desire“. In Liedern könne er seine Visionen mit Symbolen und Metaphern verschlüsseln, erklärte er einmal. Außerdem wollte er, dass jeder seine eigenen Assoziationen mit den Liedern verbinde und nicht sein Leben zu ihrem mache.

Als literarische Einflüsse nennt Dylan immer wieder den französischen Dichter Rimbaud, Bertolt Brecht und den Beat-Dichter Jack Kerouac. Aber auch Einflüsse der Bibel und der Tora sind deutlich in seinen Texten herauszulesen. Der Sohn eines Elektrikers, der in Hibbing/Minnesota aufwuchs und in Duluth/Minnesota an der Highway 61 als Robert Allen Zimmerman zu Welt kam, nannte sich früh um in Bob Dylan. Vermutlich war es keine Verneigung vor dem walisischen Dichter Dylan Thomas, wie immer wieder vermutet wird, sondern geht zurück auf einen Westernhelden. Matt Dillon war tatsächlich um 1873 Marshall von Dodge City in Kansas, in den 1950er und 60er Jahren war er Held der Serie „Rauchende Colts“ („Gunsmoke“).

Ich kann mich noch an mein erstes Dylan-Konzert in der Dortmunder Westfalenhalle erinnern. 1978. Ich fand ihn großartig, weil er die Leute mal wieder total überraschte, ja viele geradezu schockierte. Dylan im Sacco und mit großer Band im Hintergrund? Das ging für viele, vor allem (aus meiner damaligen Sicht) das überwiegend „ältere“ Publikum, gar nicht. Ich glaube, es gab auch Buh-Rufe, so wie bei Hancock damals mit seiner Funky-Disco-Band auch. Dabei spielte Dylan ein tolles Programm. Es gab „Mr. Tambourine Man“, “Tangled up in blue” und “Ballad of a thin man” und, was mich damals besonders freute  „Oh, sister“.

Der Mann hat das Leben von vielen von uns begleitet. Irgendwie ist er immer wieder da und es gehört zu den natürlichen Ritualen, immer wieder mal Dylan zu hören. So wie man immer wieder unter die Dusche geht, um sich zu reinigen. Der Mann, dessen Stimme sich mit der Zeit immer tiefer in die Seele bohrt, auch wenn sie sich anhört, als müsste er mal dringend ins Sanatorium, ist wie ein Bruder, der in jungen Jahren abgehauen ist und hin und wieder mal eine Postkarte schickt. Von irgendwoher, wo man noch nie war, aber schon immer mal hin wollte. Und dann freut man sich und kann sich gar nicht vorstellen, dass es mal anders sein könnte.