Terri Lyne Carrington stellte am Samstag in der Kölner Philharmonie ihre Band Social Science vor und damit das, was uns im Frühjahr auf ihrem angekündigten neuen Doppelalbum erwartet. Es tut sich was im amerikanischen Jazz. Künstler wie Kamasi Washington, Wadada Leo Smith und Terri Lyne Carrington schieben einen längst überfälligen Prozess in der Jazz-Community an, gesellschaftlich und politisch Stellung zu beziehen und das auch in der Musik deutlich spürbar zu hinterlegen. Das Konzert am Samstag: atemberaubend und nachdenklich machend.
Von Dylan Cem Akalin
„Was bleibt in dieser total unterschiedlichen Welt, in diesen kniffligen Zeiten?“, fragt Terri Lyne Carrington. Die Antwort ist eine ungewöhnliche Neuinterpretation des Joni Mitchell-Songs „Love“. Danke dafür, dass du uns diesen wunderbaren Song aus dem Album „Wild Things Ran Fast“ (1982) in Erinnerung gerufen hast. Und die Auslegung der 28-Jährigen Sängerin Débo Ray (bürgerlich Deborah Pierre) ist so eindringlich wie zerbrechlich. Vor allem gegen Ende, als sie davon sing, wie nur noch Bruchteile von der kindlichen Reinheit von Glauben und Hoffnung und Liebe in ihr stecken und dass von diesen „drei Großen“ die „Liebe die größte Schönheit“ ist, wie sie all diese Worte mit zarten Gesten unterstreicht, während die Band sich in gespannter Zurückhaltung übt, ist das ein beachtenswerter emotionaler Moment.
Die Band als Kollektiv
Mehr Statement braucht es nicht. Die Aussage trifft die Band als Kollektiv, weitere Ansagen bleiben aus, die sparsamen Texte und elektronisch wie rhythmisch eingebundenen Zitate aus Reden, öffentlichen Erklärungen von (amerikanischen) Politikern und Nachrichtensprechern stehen für sich. Natürlich ganz aktuell. Da geht es um den Shutdown (den Streit zwischen Präsident Trump und dem Kongress, der in einer der längsten Haushaltssperre in der Geschichte der USA gipfelte), es geht um Genderfragen, um sexuelle Orientierung, es geht um Widerstand, ums Zusammenstehen. „Wieviel können wir noch ertragen? Die Zeit wird es irgendwann erzählen, von Leid, von teuflischen Weisheiten, von Wahrheit und Konsequenzen – und Schuld“, singt Débo Ray an einer Stelle a cappella, bevor das Klavier einsetzt und sie mit einem ungeheuren Stimmumfang sich reinsteigert in die Klage, ja in den Appell an die Menschen, die „stillen Stimmen“ zu erheben, den Weckruf zu erhören.
Aaron Parks, der kommende Stern des Jazzpianos
Das war irgendwann mitten drin im 100-minütigen Auftritt in der Kölner Philharmonie, wo das Sextett eine atemberaubende Vorstellung gab. Carrington war schon vor vier Jahren in der Philharmonie, auch damals schon mit dem wunderbaren New Yorker Pianisten/Keyboarder Aaron Parks, der dem Musikmagazin Downbeat zufolge der kommende Stern des Jazzpianos ist.
Es mag an dem neuen Konzept liegen, aber an diesem Abend erst wurde mir klar, warum Carrington so auf Parks Spielweise steht. Die beiden verbindet nämlich weit mehr, als man auf den ersten Blick erkennen mag. Carrington ist ja eine Schlagwerkerin, die zwar vielseitig ist (was ihre zahlreichen Engagements bei anderen Bands und Musikern belegt), aber dennoch zu jenen Drummern gehört, die eher lautmalen als auf die Felle und Becken drauf zu dreschen. Carrington streicht über die Becken, klopft mal sanft, mal aggressiv auf die Trommeln. Sie scheint mit den Armen ständig in Bewegung, fast so, als würde sie Pinsel über eine Leinwand streichen. Aber sie kann auch mal stoisch den Takt vorgeben. So ähnlich ist es mit dem Piano: Parks ist einer, der sich einfügen kann, der nicht ständig im Mittelpunkt stehen muss, sondern genau darauf achtet, was gerade in der Band geschieht.
Matt Stevens, DJ Kassa Overall und Morgen Guerin
Dass Carrington durchaus auch rockig sein kann, beweist sie beim zweiten Stück, bei dem auch die Gitarre von Matt Stevens ausnahmsweise mal wuchtig klingt. Schräge Akkordfolgen von Parks begleiten dann eher monotone Gitarren-Arpeggios, um dann in eine Art Psychedelic Rock-Phase zu gleiten, bis DJ Kassa Overall nach einem Break elektronische Schnipsel streut, über die die Sängerin klare Ahhhs singt. Dschungelgeräusche begleiten ein eher zurückhaltendes, sehr clean gespieltes kurzes Gitarrensolo, Overall liefert zum Schluss ein paar Rap-Zeilen voller Wortspielereien. Und schon geht es zum nächsten Stück. Fusion-Jazz zu einem Bolero-Rhythmus, Morgan Guerin wechselt vom Bass zum Tenorsaxofon, Sax und Gesang steigern sich in geradezu extreme Höhen, ein harter Beat auf die Snare, und Carrington beginnt ein Drumsolo.
Débo Ray bleibt in der Mitte der Bühne, minutenlang regungslos wie der Schatten eines Kriegerdenkmals, Overall beginnt ein paar Beats zu den Drums zu zaubern, Parks, der mit seiner Mütze und der langen, kaftanartigen Jacke wie ein Mönch einer rätselhaften Sekte wirkt, spielt ein paar zarte Akkorde, die Elektrobeats entwickeln sich immer mehr zu comicartigen Sounds, das Sax übernimmt das Steuer, der Song gerät in ein karibisches Fahrwasser.
Elektrobeats wie peitschende Sägeblätter
Bei „You Took My Love Away From Me“ peitschen die Elektrobeats wie Sägeblätter zu Singelnotes des Pianos, der Gesang klingt mehr wie Randy Crawford, „Trapped In The American Dream“ hat etwas durchaus hypnotisches, das Saxofon klingt lyrisch, fast lobpreisend, dazu die einnehmenden, retardierenden Zeilen der Sängerin. Zur Zugabe gibt es „American Caresses“, Klaviertupfer, zerhackte Gitarrenläufe, ein flüsternd-präsenter Bass: Hier wird das Kollektiv-Prinzip noch einmal gesteigert.
Wenn eine weltweit anerkannte Künstlerin wie Terri Lyne Carrington eine Band „Social Science“ nennt, dann steckt da mehr dahinter als ein rein musikalisches Konzept. Die 53-Jährige, die zu den besten Drummern und anerkanntesten Komponist(inn)en und Arrangeur(inn)en weltweit gehört, mehrere Ehrendoktortitel hat, mit fast allen Größen des Jazz zusammengearbeitet hat und seit Jahren an der Musikhochschule in Berklee lehrt, engagiert sich seit langer Zeit politisch und der Frauenbewegung. Ende vergangenen Jahres gründete sie das Institute of Jazz und Gender Justice am renommierten Boston Berklee College of Music (Untertitel: Jazz without Patriarchy), das am 30. Oktober 2018 eingeweiht wurde. Carrington selbst fungiert als künstlerische Leiterin. Zweck des Instituts: „Die Jazzbranche bleibt aufgrund eines voreingenommenen Systems überwiegend männlich und fordert diejenigen, die daran arbeiten möchten, einen erheblichen Tribut zu. Um die Wichtigkeit von Gleichgewicht und Gerechtigkeit zu verstehen, ist es das Ziel des Berklee Institute of Jazz and Gender Justice, korrigierende Arbeit zu leisten und die Art und Weise, wie Jazz wahrgenommen und präsentiert wird, zu verändern, sodass die Zukunft des Jazz anders aussieht als in der Vergangenheit.“
Jazz without Patriarchy
Die Vorarbeiten hatte Carrington schon 2015 begonnen, aber eine Aktion des Women in Jazz Collective im Jahr 2017 während der #MeToo-Bewegung haben Carrington dann in ihrem Beschluss bestärkt und ihr Vorhaben beschleunigt, so erzählt sie dem Downbeat-Magazin. Bei diesem Treffen sprachen Berklee-Studentinnen über die gleichen Arten von Belästigung und Verunglimpfung, die im Zuge von #MeToo zur Anklage zahlreicher hochrangiger Männer in den Bereichen Politik, Medien und Unterhaltung führen würden. „Was mich zu der Arbeit am Institut geführt hat, waren die Geschichten, die ich gehört habe“, so Carrington. „Ich dachte, dass ich versuchen muss, etwas zu tun. Weil ich wütend werden wurde, als ich diesen jungen Frauen zuhörte und sie von ihren Erfahrungen sprachen. Ich dachte, ich kann mich nicht zurücklehnen, nur weil ich eine schöne Karriere habe. Was kann ich dagegen tun? Das Problem ist so groß.“