Was für ein Rausch! Was für eine klangliche Bilderflut! Joachim Kühn, wohl der wichtigste europäische Jazz-Pianist, entlässt sein Publikum emotional trunken in die Nacht. Sein gut halbstündiges Eingangsstück am vierten Jazzfestabend beginnt der gebürtige Leipziger auf dem Fazioli-Flügel, der mit über drei Metern der längste Flügel der Welt ist, mit Bachvariationen. Doch schon bald nimmt Kühn die Zuschauer in der ausverkauften Alten Kirche des Collegium Leoninum mit auf eine musikalische Abenteuerreise durchs kaleidoskopische Innenleben des Pianisten. Kühn spielt sich in Trance, führt die Zuschauer wie ein Lotse durch eine aufgewühlte See, seine berühmte Rechte wirbelt über die Tastatur, kämpft, erklimmt tonale Höhen, entdeckt tänzerische Melodien, die er meditativ wiederholt, während die Linke kantige, teils bizarre Akkorde schlägt. Nervöse Triller, rollende Donner, explosive Klangflächen entstehen, werden dann wieder von fast barocken Versatzstücken abgelöst, die zunächst wie befreiend wirken – aber es ist nur das Auge des Orkans, der gleich wieder los tosen wird. „The Diminished Augmented System“ nennt Kühn seine Art der Improvisation, bei der er auf Dur-Moll-Harmonik fast völlig verzichtet und stattdessen mit verminderten und übermäßigen Sounds arbeitet. Das gibt ungeheure Möglichkeiten, Spannung ohne Ende. Mit „Because of Mauloud“ gibt sich Kühn zunächst versöhnlicher. Das Stück, einem Berber-Percussionisten gewidmet, startet mit orientalischen Rhythmen und einem Piano, das an die lyrische Spannung eines Keith Jarrett erinnert. Du musst eins werden mit dem Piano, gab McCoy Tyner seinen Schülern mit. Kühn hat den Rat verinnerlicht.
„Ich bin kein Entertainer, ich bin asozial“, sagt Kühn von sich. Lynne Arriale ist so gesehen das komplette Gegenteil: Der amerikanischen Pianistin, die international längst zur ersten Garde gehört, ist der Dialog wichtig. Mit dem Publikum, aber selbstredend auch mit ihrer Band. Wer das Glück hatte, eine Karte für ihr fast zweistündiges Konzert am Donnerstagabend in der Lounge des Posttower zu ergattern, erlebte einen exklusiven Jazzabend, der alles hatte: Magie, Charme und ein perfekt aufeinander eingespieltes Quartett.
Kaum zu glauben, dass das nicht ihre Stammbesetzung ist. Guido May sprang sogar kurzfristig für ihren genialen Drummer Anthony Pinciotti ein und meisterte seinen Part mit Bravour. Antal „Tony“ Lakatos, seit 1993 Mitglied der hr-Bigband, hat einen phänomenal organischen, runden Saxophonsound und passte ideal zu Arriales intelligenten und gefühlvollen Arrangements. Das Programm bestand vor allem aus Kompositionen und Neuarrangements aus ihrem Album „Nuance“, ihrer ersten Produktion mit Quartett. Die Rolle des Bläsers übernahm auf dem Album noch Trompeter Randy Brecker, und so bekamen Stücke wie „Crawfish & Gumbo“, oder „Ballad of a sad young Man“ ein völlig neues Kleid verpasst. Die einstige Trio-Queen hat sich in den Quartettolymp gespielt.
Neben diesen Highlights hatte Singer/Songwriter Kathrin Scheer kaum Chancen, mit ihren instrumental sehr reduziert arrangierten Eigenkompositionen zu bestehen. Auch Klarinettist Claudio Puntin, der am Donnerstag mit der Formation Sepiasonic ungewöhnliche Klangexperimente darbot, fiel mit eintönigen Spannungsbögen durch. Der Vokal-Gesang gab den meditativen Kompositionen eine zu starke Dramatik. Einzig der wunderbare Pianist Florian Weber schaffte es, der Truppe Erdhaftung zu verleihen.