
Die 78-jährige Patti Smith verwandelt den Roncalliplatz vor dem Kölner Dom in eine Kathedrale des Widerstands. Mit Poesie, Punk und politischem Pathos beschwört sie das Heilige in allem – und ruft mit klarer Stimme zum Aufstand auf. Ein Abend zwischen Ekstase, Andacht und Aufbruch.
Von Dylan C. Akalin
„The world is holy! The soul is holy! The skin is holy! The nose is holy! The tongue and cock and hand and asshole holy!“ Ja, und Gaza, die von der Hamas verschleppten Geiseln und Israel, das Heilige Land, sind heilig! „Everything is holy!“ Was als ruhige Rezitation des von Allan Ginsberg 1955 geschriebenen Gedichts beginnt, entwickelt sich zu einer lauten, intensiven und immer wütender werdenden Erklärung, während die Band im Hintergrund immer wilder, geradezu pychechedelic-rockig jamt. Patti Smith, Hohepriesterin der Poesie und Rebellion, hat immer noch das subversive Feuer in sich brennen.

Und die 4000 Fans auf dem ausverkauften Roncalliplatz feiern sie für ihre kämpferische Haltung. Die Frau ist mittlerweile 78, die Haare lang und grau, doch wie sie da vorne auf der Bühne die Arme ausbreitet, tanzt und hüpft, lässt ihr Alter vergessen machen.
Immer noch wach und widerspenstig
An diesem Freitagabend findet hier vor der beeindruckenden Kulisse des Doms eine andere Art von Liturgie statt. Patti Smith, „Godmother of Punk“, trägt ein verknautschtes schwarzes Herrenjackett, ausgewaschene Bluejeans und eine graue Mütze. Statt der sonst so klobigen Boots hat sie weiße Sneaker an. Der Abend hat nichts von einer nostalgischen Reise, dafür ist diese Frau viel zu sehr im Jetzt verhaftet, viel zu wach im Kopf – und viel zu widerspenstig.

Und gut gelaunt ist sie auch. Immer wieder winkt sie Leute im Publikum zu, wendet sich mal hier und da auf die Bühnenseite, bückt sich und blickt den Leuten ins Gesicht. Die vielen Gesichter habe sie so irritiert, dass sie doch glatt vergessen habe eine Strophe zu singen, sagt sie nach „Nine“ lachend und liefert uns die Strophe rezitierend nach: „He sought not for himself/The empire he would find/Save the golden womb/He enter in his mind…“ – und startet mit „Dancing Barefoot“. Wunderschön einfach.
Transzendentale Traurigkeit
Schon die ersten Akkorde von „Redondo Beach“ mit einem leichten Reggae-Rhythmus öffnen das Konzert mit bittersüßer Wärme. Der Song stammt vom legendären Horses-Album (1975), jenem Debüt, das Punk, Poesie und Jazz vereinte. Es ist ein Stück über Verlust, über das Verschwinden einer Schwester – offen für Interpretationen, wie so vieles bei Smith. Auch nach fast 50 Jahren hat dieser Song nichts an Eindringlichkeit verloren. Im Oktober/November werde sie den runden Geburtstag noch feiern, erzählt sie später.

„Transcendental Blues“, ein Cover von Steve Earle, folgt fast nahtlos mit einem orientalisch anmutenden Bassthema, sogar die Gitarre klingt ein wenig nach Sitar. Smith verneigt sich damit vor einem anderen amerikanischen Songwriter, der Spiritualität und Schmerz zu verbinden weiß. Ihre Stimme gibt dem Song eine neue Tiefe, als würde sie die „transzendentale Traurigkeit“ der Gegenwart beschwören – zwischen Krieg, Klimaangst und Zerfall der Werte. Bisweilen verfällt sie in einen Sprechgesang, die Stimme so tief, dass ich zunächst befürchte, wie hat die Kraft nicht mehr für ihre Hymnen, die noch folgen sollen.
Von wegen! Denn sie hebt an zu „Ghost Dance“, einem ihrer älteren Songs (vom 1978er-Album „Easter“, das auch „Because the Night“ enthält), nicht ohne zuvor „diese US-Regierung“ anzugreifen, die den Native Americans keinen Respekt zolle. Deshalb sei dieser Song diesen Menschen gewidmet ruft sie. „We shall live again“, singt sie – ein alter Hoffnungsgesang, der bei Smith zu einer universellen Wiedergeburtshymne wird. Ihr Sohn Jackson Smith an der Gitarre, Tony Shanahan am Bass, Seb Rochford am Schlagzeug – sie alle tragen diese Beschwörung mit stoischer Intensität. Ihre Stimme: hell, klar, kräftig.
Bob Dylans „Man in the Long Black Coat“
Ein wunderschönes Rhodes-Piano-Intro kündigt Bob Dylans „Man in the Long Black Coat“ an. In Smiths Interpretation wird es zur düsteren Ballade über Verführung, Tod und moralisches Verschwinden. Im Zwischenteil rücken die Instrumente immer weiter von ihr ab, sie singt fast alleine, flüstert, um dann gegen Ende zu knurren und die Worte herauszupressen. Man meint fast, die Schatten des amerikanischen Traums über den Platz tanzen zu sehen.

1959 sei sie zwölf Jahre alt gewesen, erzählt sie, „und deine Babysitterin sein können“, ruft sie einem zu, der rief, da sei er geboren worden. Es sei die Zeit der großen Autos gewesen, die Kotflügel hatten wie Schwingen, um ins Universum aufzusteigen. Es war aber auch die Zeit der sogenannten Beat-Poeten wie Ginsberg, Kerouac und andere: „Sie gewannen die Schlacht für uns“, ruft sie. Und es war das Jahr, als die Chinesen Tibet anektierten und der Dalai Lama, „His Holyness“, fliehen musste. Sie bete für seine Sicherheit.
„Stand fucking up! Fight for your fucking Freedom!“
„1959“ stammt vom Album „Peace and Noise“ (1997) und bleibt ein stilles Lamento über verratene Ideale. Jackson spielt ein tolles Solo, überhaupt ist er glänzend aufgelegt an diesem Abend und überrascht immer wieder mit ausgesprochen starken Soli. Am Ende schreit Smith nur ein Wort: „Freedom!“ Immer wieder appelliert sie an diesem Abend: „Stand fucking up! Fight for your fucking Freedom!“
Nach dem magischen „Spell (Footnote to Howl)”, jenem vertonten Ginsberg-Gedicht, bei dem sich der Platz für einen Moment in eine Beat-Kathedrale verwandelt, kündigt ein ruhiges Orgel-Gitarren-Intro „Nine“ an, aus dem 2012er-Album „Banga“, geschrieben für Johnny Depp. Verspielt, fast zärtlich.

„Dancing Barefoot“, vom Album „Wave“ (1979), ist dann pure Ekstase. Es geht um Hingabe, um Verlorengehen in der Liebe – Smith tanzt, taumelt fast, als trüge sie der Song selbst über die Bühne, winkt – und da hört man diese typischen Patti-Smith-Phrasierungen, die Siouxsie Sioux sicher inspiriert haben dürften.
„The World is a vampire!“. Sie spuckt die Zeile aus dem Jahrhundertwende-Klassiker geradezu aus. Der Song „Bullet With Butterfly Wings“ ist bei den Smashing Pumpkins ein Grunge-Hammer, bei ihr wird er zur apokalyptischen Litanei: „Despite all my rage I am still just a rat in a cage.“
Eine Hommage an Ozzy Osbourne
„A little tune for Ozzy“ kündigt sie „Beneath the Southern Cross“ (von „Gone Again“, 1996) an, ein Stück, das von Licht und Dunkelheit handelt, von Himmel und Staub, gesungen mit einer Stimme, die brennt wie Weihrauch im Hals. Und tatsächlich stimmt die Band dann Black Sabbath-Riffs an – einfach klasse!
Ein überraschendes Cover: „Work“ von Charlotte Day Wilson startet schwerfällig und intensiv wie eine Portishead-Nummer. Der jüngste Song des Abends, aus dem Jahr 2017 – ein feministischer R’n’B-Song, den Smith mit brüchiger Würde interpretiert. Ihre Botschaft: Auch die Jungen verdienen Gehör, und Solidarität ist keine Altersfrage.
„People Have the Power“
Dann fließt „Peaceable Kingdom“ (aus Trampin’, 2004) nahtlos über in „People Have the Power“, ihre bekannteste Hymne. Die Menge singt mit, hebt Fäuste. „Pissing in a River“ und „Because the Night“ werden zum kollektiven Erinnerungs-Singalong.
Ein kurzer Abgang – dann kehrt sie zurück, fast bescheiden. Zur Zugabe gibt es das wunderbare „Gloria“. „Vergesst nicht, in die Kathedrale zu gehen und euch die wunderbaren Gerhard-Richter-Fenster anzuschauen“, sagt sie noch. Pünktlich eine Minute vor 22 Uhr ist das Konzert beendet. Doch auf dem Roncalliplatz, unter dem Blick des Doms, klingt es noch lange nach: „People have the power… to redeem the work of fools.“

Setlist Patti Smith, 25. Juli 2025, Roncalliplatz Köln:
Redondo Beach
Transcendental Blues( Steve Earle cover)
Ghost Dance( Patti Smith Group song)
Man in the Long Black Coat( Bob Dylan cover)
1959
Spell (Footnote to Howl) (Allen Ginsberg cover)
Nine
Bullet With Butterfly Wings (The Smashing Pumpkins cover)
Dancing Barefoot (Patti Smith Group song)
Beneath the Southern Cross
Work (Charlotte Day Wilson cover)
Peaceable Kingdom / People Have the Power
Pissing in a River (Patti Smith Group song)
Because the Night (Patti Smith Group song)
Encore:
Gloria (Them Cover)









