Über Rio Reiser – wir sprechen mit dem Selig-Sänger Jan Plewka über die Ikone des Deutschrock, der vor 25 Jahren starb

Rio-Apfel (c) sonymusic

Der Mann mit der Schiebermütze am Klavier hält kurz inne. „Ist uralt“, sagt er, und das Publikum fängt schon zu johlen an. Es ist 1992. Es ist das „Gewalt ohne mich – Aktion für Toleranz gegen Fremdenhass“-Konzert in Berlin-Weißensee. Da hat Rio Reiser schon was von einem zerknitterten Bob Geldof. „Ich muss das Ding irgendwann Anfang der Siebziger geschrieben haben. Ich wachte morgens auf, und da ist mir das wirklich eingefallen. Und das Merkwürdige an diesem Lied ist, dass es nicht wirklich älter wird. Ganz komisch, wirklich ganz komisch“, sagt er gedankenvoll. Und dann singt er mit dieser rauchigen Stimme: „Ich habe geträumt, der Winter wär’ vorbei.“ Das Lied heißt „Der Traum ist aus“ und ist so etwas wie das deutsche Gegenstück zu John Lennons „Imagine“. Der Unterschied zu Lennons Haltung ist, dass Rio Reisers Hoffnung nicht mit einem Traum endet. Er ist bereit, für seinen Traum zu kämpfen, und so singt er folgerichtig: „Ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“

Von Dylan Cem Akalin

Er muss große Träume gehabt haben, als er als 17-Jähriger 1967 nach Berlin ging, um dort mit seinen Brüdern „unserer Heimatstadt die Welturaufführung der ersten Rock-Oper der Welt zu schenken“, wie er später mal schrieb. Da hieß er noch Ralph Christian Möbius, später nannte er sich nach einem Roman des Sturm-und-Drang-Dichters Karl Philipp Moritz um in Rio Reiser. Die Stationen seines Lebens sind bekannt: Kopf der ersten deutschen Rockband, die mit deutschen Texten Systemkritik übte. Ton Steine Scherben, angelehnt an den Namen der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, schufen den Soundtrack der Studentenbewegung, des linken Widerstands, der Anarcho- und Hausbesetzerszene bis in die 1980er Jahre hinein. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ ebnet auch der Punkbewegung den Weg.

Obwohl der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Band weitgehend ignoriert, machen sich die „Scherben“ weit über die deutschen Grenzen hinweg einen Namen. Nicht nur wegen ihrer Texte, sondern auch der Musikalität der Truppe wegen, die praktisch stets an der Armutsgrenze lebte. Der charismatische Rockpoet, Rebell und leidenschaftliche Singer/Songwriter starb vor 25 Jahren am 20. August 1996 in Fresenhagen, Nordfriesland. Völlig überschuldet. Mit 46 Jahren aufgrund von Blutungen der Krampfadern in der Speiseröhre.

Rainer Pause und Rio Reiser

In diesen Jahren seit seinem Tod gab es viel Wirbel. Um den Hof, der zunächst Sitz des Vereins Rio Reiser Haus war, seinen künstlerischen Nachlass, den seine Brüder Peter und Gert Möbius 2019 dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) stifteten, und schließlich seine Grabstätte, über die die damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis zunächst persönlich verfügte, dass er 1996 auf seinem Privatgrundstück in Fresenhagen beigesetzt werden durfte.

Der Hof in Nordfriesland war sowas wie ein Zufluchtsort geworden. Die Band flüchtete Mitte der 1970er Jahre tatsächlich geradezu aus Berlin, wo sie immer mehr bedrängt und vereinnahmt worden waren von Studenten- und Protestgruppen, die meinten die „Scherben“ seien Allgemeingut. Oft spielte die Band für lau – nicht nur auf Solidaritätskonzerten. Einige hatten noch Jobs nebenbei, etwa auf dem Friedhof, damit man sich wenigstens etwas zu Essen leisten konnte. Das Schlüsselerlebnis war mal wieder ein Solidaritätskonzert, damit irgendeine Gruppe irgendeinen Anwalt bezahlen konnte. Es war ein Tag, an dem es mal wieder absolut nichts zu essen gab. Sie trugen also die Anlage in den vierten Stock hoch. Erfreut sahen sie, dass es da Platten mit belegten Broten gab und sie fragten, ob sie sich da bedienen könnten. Dann müssten sie aber auch den Solidaritätsbeitrag zahlen, habe es geheißen. „Und da ist Rio total ausgeflippt, hat das alles durch die Gegend geworfen, sein Hemd aufgerissen, und die Anlage wurde wieder runtergeschleppt“, erzählt später einer aus der Band. „Am nächsten Tag gab es Plenum. Und der Beschluss fiel, Berlin zu verlassen.“

Ein Ehrengrab für Rio Reiser

Nach dem Verkauf des Hofes wurde der Leichnam Reisers am 11. Februar 2011 auf den Alten St. Matthäus-Friedhof im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg umgebettet, wofür sich übrigens auch der Bonner Pantheon-Chef Rainer Pause stark eingesetzt hatte. Anfang August 2021 beschloss der Berliner Senat, dass es eine Ehrengrabstelle werden soll.

Was ist geblieben von dem Mann, der Songs wie „König von Deutschland“ schuf oder „Junimond“? Der Zeilen schuf wie „Der Krieg ist vorbei, die Gefängnisse sind leer, es gibt keine Waffen mehr. Das war das Paradies, der Traum ist aus.“ Der traurig-hoffnungsvolle Songs wie „Halt dich an deiner Liebe fest“ schrieb? Darüber sprechen wir mit Jan Plewka, der als Sänger der Band „Selig“ seit Mitte der 90er Jahre zum Erfolgreichsten der deutschsprachigen Musikszene gehört und der seit 2005 immer wieder mit einer Rio-Reiser-Hommage tourt.

Lan Plewka und Rio Reiser

Es war ursprünglich eine Idee von Tom Stromberg. Der damalige Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg und bekennender Fan der Ton Steine Scherben und Rio Reiser wollte 2005 eine Rio-Reiser-Hommage inszenieren und fragte Plewka, ob er da mitmacht. „Ich habe erst mal spontan Nein gesagt. Ich stellte mir vor, was seine Brüder und die übrigen Ton Steine Scherben-Mitglieder darüber denken würden und dachte, das kann nur lächerlich werden. Stromberg und meine Frau haben mich dann überredet, das wenigstens mal zu versuchen. Also haben wir die Stücke einstudiert und zunächst ein kleines Geheimkonzert für einige wenige Leute gegeben. Das war so magisch“, erzählt er.

Jan Plewka singt Rio Reiser FOTO: Promo

Zur Premiere kamen dann tatsächlich Rio Reisers Brüder und die übrigen Mitglieder der Ton Steine Scherben. „Mir war damals klar, wenn die das scheiße finden, dann spiele ich die Spielzeit noch durch und dann lasse ich das Mikro fallen und rühre es nie wieder an. Am Ende des Abends lagen wir uns alle in den Armen. Wir sind mittlerweile gute Freunde geworden.“

Seitdem ist Plewka immer wieder mit diesem besonderen Programm unterwegs. Stets mit Erfolg und vor vollen Häusern. Die Alten, die stehen hinten und haben Deja-vus, und vorne hängen die Jungen an seinen Lippen, sagt er. „Rios Lieder müssen gesungen werden, warum nicht auch im Rahmen eines inszenierten Konzerts? Und ich versuche ja nicht, sein Timbre beim Singen zu imitieren, sondern ich bleibe ja Jan Plewka. Der nur seine Argumente übernimmt. Seine Melodien und seine Ideen. Ich versuche ja wirklich nicht so zu tun, als wäre ich Rio Reiser auf der Bühne.“

Rio Reiser ist der Maßstab

Seit seiner Teilnahme an dem TV-Format „Sing meinen Song – Das Tauschkonzert“ im vergangenen Jahr erreichte Plewka einen noch größeren Bekanntheitsgrad. Und der 51-Jährige ist gut in der deutschen Musikerszene vernetzt. Auch daher weiß er, dass Rio „für alle, die deutsche Texte schreiben, ein Thema ist. Rio Reiser ist der Maßstab. Es kommen ja auch immer wieder mal Platten heraus, wo Lieder von Rio und den Scherben gesungen werden. Das ist unser großer Volksrock-Poet, nach dem wir alle streben. Goethe, Schiller, Rio“, sagt er und lacht herzlich.

Eine der jüngsten Compilations ist „Wir müssen hier raus“, eine Hommage an eine der „wichtigsten, einflussreichsten, deutschen Bands“, wie die Plattenfirma anpries. Und da singt wirklich fast alles, was in der deutschen Pop- und Rocklandschaft einen Namen hat: Fettes Brot („Ich bin müde“), Bosse („Warum geht es mir so dreckig“), Jan Delay („Für immer und dich“), Wir sind Helden („Halt dich an deiner Liebe fest“), Die Sterne („Wenn die Nacht am tiefsten“) und viele andere. Frank Spilker von Die Sterne, sagt, es sei schade, dass überwiegend die politischen Aussagen, die Scherben als Sprachrohr der Studentenbewegung übrigblieben. „Weil sie doch letztendlich eine geile Rockband waren.“

Christoph Schuch drehte vor fünf Jahren eine schöne Dokumentation mit dem Titel „Der Traum ist aus oder die Erben der Scherben“. Darin kommen viele Musiker zu Wort. So wie Jakob Friedrichs von Element of Crime, der dem Lebensgefühl der Band huldigte und: „Die haben die Dinge ganz klar auf den Punkt gebracht.“ Jan Müller von Tocotronic wurde geboren, als die erste Platte von den Scherben herauskam. Er sagt: „So direkt und radikal war keine andere Band.“

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Ton Steine Scherben und ihr Einfluss

Für Jan Plewka steht zweifellos fest, dass die Scherben und Rio die deutsche Musikszene nachhaltig beeinflusst haben. Da gründet sich in der von Schlagerschnulzen dominierten bundesrepublikanischen Welt eine Band mit der musikalischen Gewalt der Stones oder der Kinks. „Und dann mit deutschen Texten, die solch eine Kraft hatten. Das hat es bis dahin nicht gegeben“, sagt Plewka, der von sich sagt, dass er schon bei den ersten Takten der Musik infiziert worden sei. „Das war ein Klassenkamerad, der legte eine Scheibe von den Scherben auf, und ich war gleich hin und weg. Als ich Rio und die Scherben das erste Mal gehört habe, das war für mich wie eine Injektion. Seitdem bin ich infiziert. Diese Musik und Rios Poesie schwebt die ganze Zeit über meinem Leben. Wie nichts Anderes. Ich bin wirklich glühender Fan.“

Reiser habe diese unfassbare Gabe gehabt, das Politische und Poetische und diese Utopie von einer besseren Welt „so wahnsinnig authentisch darzustellen, dass man das alles glaubt und liebt und leben möchte. Das muss ein unglaublich charismatischer Mensch gewesen sein. Mit einer ganz zerbrechlichen Seele. Ich hätte ihn sofort gerne kennengelernt“, sagt Plewka. Die Chance sollte er tatsächlich eines Tages in Hamburg bekommen. Und dann passierte das: „Er hatte mich eingeladen über einen befreundeten Poeten aus Hamburg, Peter Holler. Wir sollten nach einem Konzert, das er in Schmidts Tivoli gegeben hatte, vorbeikommen. Ich war total aufgeregt. Als wir Backstage gingen, sah ich, wie Rio auf einem Tisch saß und mit den Beinen baumelt. Als wenn er auf etwas wartete, aber auch etwas verträumt, und da blieb mir das Herz stehen. Peter, geh alleine hin, ich kann nicht. Mir schlottern die Knie. Und dann bin ich weggelaufen und habe mich betrunken auf dem Kiez.“

Vielleicht stimmt der Spruch ja: Never meet your idols. „Ich weiß nicht, ob es Fluch oder Segen war, vielleicht wäre ja auch eine großartige Freundschaft daraus geworden. Leider ist er kurze Zeit danach gestorben. Das werde ich nie rausfinden. Aber es gibt sowas wie eine kosmische Verbindung, ich träume viel von ihm. Und er gibt mir dabei Tipps. Einmal saß ich im Auto mit ihm in einem meiner Träume. Ich fragte ihn, sag mal Rio, wie schreibt man eigentlich gute Texte? Und er antwortete: Du musst nicht das Insekt beschreiben wie es über deine Haut krabbelt, sondern das Gefühl, was das mit dir macht.“

Hommage-Abende von Plewka

„Als ich mit Selig am Start war ganz früh, habe ich ein Interview mit Rio im Musik-Express gelesen, da wurde Rio gefragt, was er denn von der deutschen Musikszene halte? Und er antwortete: Solange es Bands wie Blumfeld, Selig und Nationalgalerie gibt, ist nichts verloren. Da musste ich echt heulen. Das war für mich wie ein Ritterschlag.“

Dennoch, wer diese Hommage-Abende von Plewka besucht, erlebt, dass er das auch mit einem gewissen Augenzwinkern macht. Da ist keine auf die Knie fallende Heldenverehrung. „Das sind inszenierte Konzerte, bei denen auch viel gelacht wird“, sagt Plewka auch selbst. Lanrue von den Ton Steine Scherben habe ihm mal gedankt, dass das nicht so verklärte Abende seien. Denn Rio sei auch ein richtig lustiger Kerl gewesen.

Rio Reiser (c) sonymusic

Wer sich die Lieder heute nochmal anhört mit all dem Wissen über die Pop-Gegenwart in Deutschland, der findet vieles daraus bei aktuellen Bands wieder. Rio Reisers Magie hat viele erfasst. Zumindest hat sein Stil sicherlich so einige beeinflusst, angefangen von Herbert Grönemeyer bis zu AnnenMayKantereit. Kraftklub nannte eine Platte in Gedenken an die Scherben „Keine Nacht für niemand“. Und der fantastische Song „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ von Danger Dan (Antilopen Gang) atmet Rio Reisers Geist durch jede Zeile. Erinnert sei auch noch an ihr Stück „Das Trojanische Pferd“ mit der wunderbaren Zeile: „Wir haben Nikel Pallat seine Axt abgekauft/
Plötzlich wurden wir auch eingeladen in die Tagesschau/Ein dummer Trick, erst machst du auf Hundeblick/Dann forderst du die Abschaffung der Bundesrepublik“.

„Der Traum ist aus“, dieses Lied, sagt Plewka, zeige sehr genau die Stärke Rio Reisers, „dass er diese menschlichen Tiefen in seinen Liedern beschreibt, immer weiter an die Liebe und das Licht zu glauben. Und genau so etwas fehlt heute vielleicht.“

Gedenkveranstaltung zum Todestag von Rio Reiser

Zum 25. Todestag von Rio Reiser findet am 22. August ab 14 Uhr auf dem Alten Sankt-Matthäus Kirchhof, Großgörschenstraße 12 – 14, 10829 Berlin, eine Gedenkveranstaltung statt. Es spielt die Band Ton Steine Scherben & Gymmick. Teilnehmer müssen sich vorher per E-Mail anmelden: vonboxberg@zwoelf-apostel-berlin.de