Der Graf, das Phantom

Schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, weißes Hemd, den Kopf zur Glatze rasiert, das breite Kinn wird durch diese dreieckigen Bartflächen um die Mundwinkel betont. Er nennt sich einfach Graf. Mehr nicht. Und er ist Unheilig. Die Band zählt mit mehr als drei Millionen verkaufter Alben zu den erfolgreichsten Deutschlands, erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie Bambi, Goldene Kamera und allein sechs Echos. Viermal Platin für das Album „Lichter der Stadt“ und siebenfach Platin für die „Große Freiheit“. Der Mann sieht aus wie ein Prediger aus einem alten amerikanischen Schwarz-Weiß Film. Und er ist ein mediales Phantom, ein Geist im weltweiten Netz der Informationstechnologie. Zurzeit arbeitet er täglich im Studio an seinem neuen Album, das im kommenden Jahr erscheinen wird. Mit dem Grafen sprach Cem Akalin.

J&R: Herr Graf, …

Graf: Wir können uns einfach Duzen.

J&R: Ich bin ein wenig verwirrt. Ich habe gegoogelt, was das Zeug hält, habe aber dennoch nicht viel über Dich herausbekommen.

Graf: Das ist doch super! Du kriegst schon eine Menge über mich heraus, aber eben nichts Privates.

J&R: Fangen wir mal ganz einfach an: Bernd Heinrich Graf aus Würselen bei Aachen. Was stimmt denn davon?

Graf: Da ist nichts bestätigt bisher (lacht). „Bernd Heinrich“ steht glaub ich in Wikipedia. Dann hieß ich auch mal „Franz“ und „Erik Weiß“. Das stand mal unter einem Foto – war aber der Name des Fotografen. Ich find’s gut so. Privat ist halt privat.

J&R: Aber Aachen? Das stimmt?

Graf: Natürlich! Denn Aachen ist ja die schönste Stadt der Welt!

J&R: Ich habe nicht einmal herausgefunden, wie alt du bist. Ist das so ein Geheimnis?

Graf: Das nicht, aber wenn du mit einer Sache anfängst, dann wird weitergeforscht.

J&R: Wie alt bist du denn?

Graf: Ich bin keine 25 und keine 18. Nee, wenn es nur noch darum geht, wo du wohnst, ob du Kinder hast, verheiratet bist, dann rückt die Musik in den Hintergrund.

J&R: Das hat ja ein wenig etwas von Atze Schröder. Der Comedian macht einen unheimlichen Wirbel, um seine bürgerliche Identität geheim zu halten.

Graf: Man macht das, um im Privaten seinen Ruhepol zu behalten.

J&R: Aber die Person Graf hängt doch eng mit der Musik von Unheilig zusammen. Du bist doch als Musiker nicht so eine Kunstfigur wie Atze Schöder, der ja sogar eine Klage gegen die Bild-Zeitung gewonnen hat, weil die ein Foto veröffentlicht hatte, das ihn ohne Perücke zeigte. Jetzt sag bloß, du trägst so eine Filmglatze?

Graf: (lacht) Nein, die ist echt. Hallo? Ich setz mir doch nicht so’ne Gummimatte auf. Nein, mir ist ganz wichtig, das der Mensch, der da auf der Bühne steht und mit dem du jetzt redest, genau der gleiche privat ist, wie der Graf.

J&R: Mal im Ernst: Ich habe dich in einigen Talkshows gesehen, und da kommst du sehr natürlich, authentisch rüber – ein netter Typ, mit dem ich ein Bier trinken gehen würde.

Graf: Jawohl! Aber ich würde ein Wasser trinken. Richtig ist, dass der Graf ein Künstlername ist. Aber als Mensch und Musiker bin ich genau so. Ich will einfach keine Grenze überschreiten, wo deine Familie, deine Eltern, dein Privatleben öffentlich thematisiert werden.

J&R: Einige Dinge sind aber schon bekannt, und die Texte haben ja offensichtlich teilweise auch biografische Bezüge.

Graf: Siehst du? Gerade, weil über mein Privatleben so wenig bekannt ist, hast du dich zum Beispiel mit meinen Texten beschäftigt. Und genau darum geht es mir: dass die Leute sich mit meiner Musik beschäftigen. Und in der Musik bin ich ja privat. Wer meine Lieder hört, lernt mich kennen.

J&R: Es gibt Andeutungen auf Schicksalsschläge…

Graf: Da bin ich ja auch offen gewesen. „Geboren um zu leben“ ist eine Weiterverarbeitung des Liedes „An deiner Seite“. In ihnen geht es um den Tod meines besten Freundes. Und wenn du mit solchen Liedern nach draußen gehst, dann kannst du auch die Geschichte dahinter erzählen. Aber ich nenne keine Einzelheiten, keine Namen, es gibt kein Foto. Nichts. Natürlich gab es jede Menge Medienanfragen, die das interessierte. Aber das haben wir kategorisch abgelehnt.

J&R: Ich merke gerade, dass du jetzt, da wir ins Persönliche geraten, ins Stocken gerätst.

Graf: Ja, ich bin Stotterer. Damit gehe ich offen an. Ich kann es ja auch nicht verleugnen.

J&R: Was ist geschehen?

Graf: Ich war fünf Jahre alt. Ich kam irgendwann nach Hause und begann zu stottern.

J&R: Dem muss doch ein einschlägiges Erlebnis vorangegangen sein?

Graf: Nee. Nicht jeder Stotterer hat etwas erlebt. Eine Boulevardzeitung hat geschrieben, da müsste etwas ganz Schlimmes in meiner Kindheit passiert sein. Quatsch!

J&R: Nicht?

Graf: Ich kann mich nicht erinnern. Es ist wohl so, dass das bei Kindern im Alter zwischen fünf und sieben Jahren auftritt. Bei manchen geht es wieder weg, andere müssen ihr Leben lang damit zurecht kommen.

J&R: Vieler Deiner Songs handeln von Trost, von Einsamkeit und Abschied. Warum?

Graf: Weil das das Leben ist. Ich schreibe meine Lieder ja selber, und darin verarbeite ich vieles, was ich erlebt habe, was mich beschäftigt. Positives wie Negatives. Das Leben in all seinen Facetten kommt in meinen Liedern vor. Unheilig ist nicht nur Trauer-, Abschieds- oder Trostmusik. Uns gibt es seit 15 Jahren. Viele kennen nur „Geboren um zu leben“ und wundern sich auf Konzerten, dass es auch eine andere Seite gibt.

J&R: Die Stücke sind schon von gewissem Pathos getragen…

Graf: Auf jeden Fall!

J&R: … aber auch von der Melancholie, die man hat, wenn man an etwas Vergangenes denkt.

Graf: Richtig. Genau. Das ist ganz wichtig. Bei mir ist alles eine Verarbeitung. Das ist eben der Unterschied zu vielen anderen Künstlern, die Stücke von anderen geschrieben bekommen. Bei mir geben die Lieder etwas wider, was ich selbst erlebt habe. Und dann kommt natürlich auch Pathos, vielleicht auch Kitsch hinzu. Aber auch Freiheitsgefühl, Glaube…

J&R: Entspricht das deiner Grundhaltung, deiner Stimmung?

Graf: Klar. Das ist immer so. Das sind Emotionen. Ich brauch die Musik, um mit meinem Leben klar zu kommen. Ich erklär mir mein Leben selber. Je nach Stimmung schreibe ich ein hartes Stück, das eher in Richtung Rammstein geht oder eben eine Ballade.

J&R: Du bist grad im Studio. Zuletzt haben mir, ehrlich gesagt, die harten, rockigen Gitarrenriffs gefehlt. Kommt da wieder was?

Graf: Ja! Es stimmt, wir sitzen grad am neuen Album, das nächstes Jahr rauskommt. Und das wird auf jeden Fall wieder etwas lauter werden und mehr Ecken und Kanten haben. (lacht)

J&R: Was ist mit Politik? Gibt es politische oder soziale Themen, die du aufgreifen würdest? Gehst du auf ein aktuelles Thema ein?

Graf: Am Anfang steht immer eine Emotion. Und da könnte auch ein Statement zu etwas stehen, was ich gut oder schlecht finde. Ich will das nicht ausschließen. Es gibt keine Grenzen. Ich habe ja auch schon mal ein Lied über Religion geschrieben: „Der Himmel über mir“. Da steht auch eine klare Aussage drin.

J&R: Die Kriege im Nahen Osten, der Ukraine, im Irak und in Syrien, daran kommt ja zurzeit keiner vorbei. Wie gehst du mit solchen Nachrichten um?

Graf: Weißt du was mich bestürzt hat? Vor der WM wurde über Krieg gesprochen, dann kam die zugegebenermaßen tolle WM, und sechs Wochen gab es gar nichts anderes mehr. Aber dann frag ich mich: Wo ist da die Wertigkeit von Nachrichten? Was ist denn wirklich wichtig? Was ist so wichtig, dass es vielleicht auch mal die WM in den Hintergrund schiebt? Da wurde doch über den eingewachsenen Zehennagel von Fußballspielern mehr berichtet, als über die Konflikte, die vorher das Internet und die Zeitungen beschäftigten. Dadurch wird doch die Glaubwürdigkeit einer Nachricht total verwässert.

J&R: Du kannst doch deine eigene Wertigkeit setzen.

Graf: Die setzen sich Menschen zu Beispiel, wenn sie Kriegsangst haben. Mir geht es aber darum, wie sehr ich einer Nachricht über einen Konflikt vertrauen kann. Ist er jetzt wirklich so hart oder will man damit nur ein Sommerloch stopfen? Ich empfinde so, weil die, die die Nachrichten verbreiten, mit ihrer Wertigkeit so hin- und herspringen. Gerade im Internet: Da steht die Scheidung eines Promis neben einem Kriegsbericht. Da dreht sich die Berichterstattung wie ein Fähnchen im Wind. Um auf den Beginn unseres Gesprächs zu kommen: Die Leute interessieren sich doch gar nicht für mich oder meinen Namen. Sie sind doch nur auf mich aufmerksam geworden, weil die Musik erfolgreich ist.

J&R: Aber schau mal: Du engagierst dich doch auch bei verschiedenen Vereinen für kranke und todkranke Kinder, besuchst Krankenhäuser und Sterbehospize. Das tust du doch, weil die Menschen dort dich sehen wollen? Du gibst ihnen ja offensichtlich etwas.

Graf: Ja, dort wollen die Leute mich sehen, die ich besuche. Ich gehe damit ja nicht in die Medien, lasse dort keine Fotos machen.

J&R: Warum machst du so etwas?

Graf: Weil diese Menschen mich sehen wollen. Weil ich davon überzeugt bin, dass du anderen Menschen helfen solltest. Im Ernst: Vor meinem ersten Besuch im Sterbehospiz habe ich echt Panik gehabt. Ich wusste nicht, was mich dort erwartet, und ich wusste nicht, was ich dort leisten kann.

J&R: Und?

Graf: Es gibt kein schöneres Gefühl, als das, wenn du etwas Gutes tust, wenn du einen Menschen glücklich machst. Auch wenn sich das jetzt wieder pathetisch anhört: Aber in diesem winzigen Moment, hast du das Gefühl, dass du die Welt ein klitzekleines bisschen besser gemacht hast.

J&R: Würdest du sagen, du bist ein guter Mensch?

Graf: Ja, würde ich sagen.

J&R: Ist das etwas, wonach man streben sollte?

Graf: Ach, das soll doch jeder für sich selbst entscheiden, wo er sein Glück findet. Ich strebe schon danach, alles möglichst richtig zu machen. Meine Lebenseinstellung: Tu das, was dich glücklich macht ohne anderen zu schaden.

J&R: Darum geht es im Leben.

Graf: Ja, aus der Zeit, die du hier hast, etwas zu machen, das eventuell bleibt. Und wenn du etwas bewegst, bleibt was. Ganz klar!