Kettcar, Muff Potter und Fortuna Ehrenfeld spielen am Sonntagabend vor rund 2000 Fans auf dem KunstRasen Bonn. Glücklicherweise spielte diesmal auch das Wetter mit. Die Stimmung bei Kettcar war grandios, die beiden anderen Gruppen hätten ein wenig mehr Unterstützung durch das Publikum verdient.
Von Mike H. Claan und Peter „Beppo“ Szymanski
Martin Bechler nahm’s gelassen. „Wir sind halt nur ‚ne Vorband“, sagt der Mann, der wie gewohnt im Pyjama auftritt über die mangelnde Begeisterung beim Publikum. Dabei war der Mann mit seinem Taschenorchester Fortuna Ehrenfeld wirklich richtig stark. Und wer sich noch an ihren Auftritt in der Harmonie Bonn erinnert, weiß, dass die Band in der Lage ist, Stimmung zu machen, auch wenn die intelligenten Texte bisweilen stark an der Absurdität der Realität kratzen. Der romantische Punk, begleitet von Jenny Thiele am Keyboard und Paul Leonard Weißert am Schlagzeug, weiß genau, wie man den Umfang eines Herzens ganz genau berechnen kann: „Du drehst dich in den Schwindel/Und stoppst danach die Zeit“, heißt es im Opener „Helm ab zum Gebet“.
Musikalisch liegt die Musik zwischen Elektro, Singer/Songwriter, Rock und Chanson. Eine gewisse Melancholie gehört dazu („Hört endlich auf zu jammern“). Fortuna Ehrenfeld ist so was wie das Gegenkonzept zu den eher gefälligen Songs von Max Giesinger, Mark Foster & Co.
Nach fast zehnjähriger Auszeit ist die 1993 in Münster und Rheine gegründete und 2009 aufgelöste Punkrockband Muff Potter wieder unterwegs und machte Station in Bonn. Die Band verbindet mit Kettcar eine langjährige Freundschaft, von daher ist die Verbindung der beiden Bands an einem Abend schon konsequent. Die satten Gitarren-Riffs mögen auf die Zeit vielleicht etwas mehr Abwechslung vertragen, aber die sozialkritischen Texte sind einfach nur gut.
Sänger, Gitarrist und Texter Thorsten „Nagel“ Nagelschmidt bedauerte, dass die kleinen Musikclubs untergehen würden und spielen „23 Gleise später“. Zum Glück stimmt das nicht für Bonn. Die Harmonie hält die Fahne hoch. Und Nagel erzählt, dass er mal in Bonn im Namenlos war – nur sehr kurz, weil er rausgeworfen wurde, da er eine Flasche Pernod geklaut hatte. Punker halt.
„Born Blöd“ startet dann auch ziemlich punkig und wild. Die Band scheint die Rückkehr auf die Bühne zu genießen. Lieder wie „Es gibt kein Leben ohne Blasphemie“ hat an Aktualität jedenfalls nichts verloren. Muff Potter bietet einen schönen Querschnitt ihres Schaffens. Von „Bis zum Mond“ über „Elend #16“, wo die Müllabfuhr die Scherben aufsammelt, „wie du die Gefühle von letzter Nacht“. Auch „Alles nur geklaut“ ist dabei, und bei „Wir sitzen so vorm Molotow“ kriegt jeder Punk Gänsehaut. Als „100 Kilo“ verklingt, ist die Show vorbei: „Geht so das Ende? Ein 100 Kilo Herz schlägt auf mich ein. Das kann’s doch nicht gewesen sein. Zwei taube Hände, ein 100 Kilo Herz und nur ein Bein. Heut Nacht sterb‘ ich für mich allein.“ Schön.
Kettcar war die Band des Abends. Kaum auf der Bühne, legte das Publikum gleich los und sang alle Texte mit. Was für eine Fanbase!
Sänger Marcus Wiebusch erklärt, vom KunstRasen habe er schon gehört. Das sei doch die Spielstätte, wo Sting auftreten sollte und wo man es mit der Lautstärke so ernst nehme. Sei Gesang, die Sounds seiner Gitarre und die von Gitarrist Erik Langer sind stilbildend für die leicht melancholische Grundhaltung. Keyboarder Lars Wiebusch spielt mal bewegende Klaviereinlagen, mal liefert er und Indie-Pop-Melodien, elektronische Beats oder Samples bei. Reimer Bustorff am Bass und Schlagzeuger Christian sorgen für kräftigen Rhythmus.
Mit dem Lied „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ geben Kettcar ein politisches Statement ab. „Menschen durch Zäune zu helfen, das ist ein humanistischer Akt. Wir lassen uns nicht davon abhalten Menschen zu helfen, aus dem Mittelmeer und über Grenzen“, ruft Wiebusch in die Menge.
Und auch „Der Tag wird kommen“ ist eine aufrüttelnde Anklage gegen Gleichgültigkeit, eine Aufforderung, für Freiheit und Toleranz einzustehen. Kettcar ist eine politische Band. Das ist klar. Sie entstammen von der sogenannten Hamburger Schule, einer musikalischen Bewegung aus den 1980er und 1990er Jahren mit politischem Background. Sie singen gegen Homophobie, für Solidarität und Menschenrechte, sie stehen hinter den Seenotrettern im Mittelmeer. Neben Songs aus ihren Gründungsjahren spielen sie auch „Palo Alto“ von der EP „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit“. Es geht um die negativen Folgen der Digitalisierung. Und als Antwort an die vielen, die die engagierten Flüchtlingshelfer und Retter im Mittelmeer als „Gutmenschen“ beschimpfen singt Wiebusch: „Irgendjemand sagt: Gutmensch/Und du entsicherst den Revolver/Empathie ohne Mitleid/Vielleicht das allerletzte Bollwerk“.