Von Dylan C. Akalin
Wow, was für ein Einstieg in einen schönen Konzertabend auf dem KunstRasen Bonn. Schiefe, stählerne Sounds wie elektronisch verfremdete tibetische Zimbeln und Glocken zu Zerrbildern auf den LED-Wänden reißen kleine, feine Risse in die laue Sommerluft, und Placebo startet mit „Forever Chemicals“ vom aktuellen Doppelalbum „Never Let Me Go“. Ja, das Album stand mit insgesamt neun Songs im Mittelpunkt des Sets. Wer also eine Art nostalgische Reise zurück zu den alten Zeiten erwartet hatte, wurde vielleicht zunächst enttäuscht. (Und nein, „Nancy Boy“ spielen sie nicht an diesem Abend) Aber das Album ist ein echter Gewinn für die Plattensammlung, also: Alles gut!
„Forever Chemicals“ ist ein echter Placebo. Die sanfte Stimme von Brian Molko und die wie leise Wellen auf den Sandstrand rollende Melodieführung täuscht über ein tiefsinnigen Inhalt hinweg. Molko beschäftigt sich mit den Mechanismen des Gedächtnisses und seine komplexe Bedeutung für Emotionen und Beziehungen, aber es geht auch um die Effekte von Drogen, um das Gedächtnis und die damit verbundenen Konsequenzen zu manipulieren.
„Beautiful James“
Darauf folgt der wunderschöne Song „Beautiful James“, ein Song, mit dem Brian Molko sein eigenes Selbst besingt. Es ist schon zu Beginn des Konzertes ein berührender Moment, den Künstler so verletzlich auf der Bühne zu sehen. „James“ ist sowas wie seine unschuldige Seele, die Molko einfach nur vor der kaltherzigen Welt bewahren will. Aber Moloko ahnt, dass das nicht von Dauer sein kann. Der Text mäandert zwischen Symbolik und Liebeserklärung an einen geliebten Mann.
Es ist ein toller Placebo-Abend, und man hat Brian Molko nicht oft einen ganzen Abend durch so glücklich lächeln gesehen. Molko, der fast nach jedem Song die Gitarre wechselte, wurde von Gründungsmitglied Stefan Olsdal begleitet, und der Multiinstrumentalist sprang zwischen Lead-Gitarre, Synthesizern und weißem Flügel hin und her.
Placebo zieht immer noch ein großes Publikum an. 8000 kommen am Donnerstag in die Bonner Rheinaue. Und an ihrer Grundformel hat sich nicht viel geändert. Molkos unverkennbare, irgendwie androgyne Stimme mit der leicht gequälten Anmut im Ausdruck und die komprimierten Melodien, die schweren verschlungenen Post-Punk-Gitarren, das Industrial-Gedröhne. Ja, das alles war wieder da. Aber da ist noch mehr. In „Hugz“ kommt auch etwas Hymnisches zutage, dem ausgeflippte Gitarreneinlagen etwas die Größe nehmen, aber gleichzeitig durch diese kreischende Urgewalt im Sound ein Volumen schaffen, das wie von allen Seiten auf dich einbricht. Molko singt unbeirrt in diesem glanzvollen Chaos, und er und Olsdal sind in diesem Moment wie zwei Perseiden, die Hand in Hand in unsere Atmosphäre stürzen.
Der Sound ist teilweise katastrophal
Der Sound hier mittig vor der Bühne ist fantastisch, doch wir haben es ausprobiert: Seitlich und etwas weiter hinten fehlt es an Transparenz, um die teils genialen Soundcollagen in Gänze zu erfassen. Und weiter hinten – ist der Klang eine Katastrophe. Die Band klingt wie aus einem tragbaren Lautsprecher mit zu vielen Höhen. Sehr schade für die Fans. Auch schade: Das Bild auf den LED-Wänden mit durchgängig nur verzerrten Bildern. Keine Ahnung, ob das Absicht war oder ein Defekt in der Technik. Das Publikum ab Mitte des Areals hat die Band jedenfalls praktisch nicht gesehen.
„Wir sind keine Band aus England, wir sind eine Band aus Europa“, ruft Brian Moklo dem Publikum zu, und alle wissen, was er meint. Immer wieder redet er radebrechend auf Deutsch mit dem Publikum. Sehr schön.
Noch so ein festnehmender Moment: die Ballade „Happy Birthday in the Sky“, der so akustisch beginnt und dann allmählich eine Magie entfaltet und wie einige gespenstige Wolke von der Bühne in die Menge kriecht. Um es vorweg zu nehmen: „Too Many Friends“ gefällt mir, auch wenn es Kritiker gibt, die meinen, der Text über kaputte Beziehungen in Zeiten von Social Media sei platt. Egal. Der Song, der später kommt, ist einfach hinreißend. Er gehört so wie „Happy Birthday“ zu den Songs, die auch R.E.M. hätte schreiben können.
Tears For Fears und Kate Bush zum Schluss
Zur Zugabe gibt es eine wirklich beeindruckende Version von „Shout“ (Tears For Fears), das unvergessliche „Fix Yourself“ vom neuen Album und Kate Bushs „Running Up That Hill (A Deal With God)“. Da liegt Brian indes ein wenig daneben. Bei Rock am Ring 2022 klang das besser. Insgesamt aber ist dieser Auftritt beeindruckender. Brian Molko hat bei der Durchsage zu Beginn des Konzertes nicht zu viel versprochen, als er das Publikum bat, die Handys wegzulegen und sich auf den Moment zu konzentrieren und eine Nacht der „Transzendenz“ und Magie zu genießen. Das haben wir.