Das Jazzfest Bonn 2026 setzt ein kraftvolles Zeichen in einer Zeit, in der KI und Streaming-Plattformen den Musikkonsum dominieren. Mit 30 Konzerten, 130 Musiker*innen und elf Spielorten präsentiert Intendant Peter Materna ein Programm, das konsequent für Authentizität, künstlerische Handschrift und echte Begegnungen steht. Von Jan Garbareks feierlicher Eröffnung in der Beethovenhalle über aufregende Entdeckungen wie Hildegunn Øiseth oder Yumi Ito bis hin zum orchestralen Finale reicht ein Panorama, das den Jazz in seiner ganzen menschlichen Tiefe zeigt.
Von Dylan Akalin
„Der Faktor Mensch – echt und unersetzlich“ steht als Überschrift der programmatischen Konzeption für das Jazzfest Bonn 2026. Der Jazz als Gegengewicht zu von KI gesteuerten Hörgewohnheiten, die Streamingdienste prägen. Der Jazz mit seinen Momenten der spontanen Komposition, mit seinen kollektiven Interaktionen, für die es Risikofreude, Freiheitsdrang und ein hohes Maß an persönlicher Offenbarung braucht, steht für Authentizität, für nicht reproduzierbare, nicht von Algorithmen geführte Erlebnisse. Für Festivalleiter Peter Materna ist der Titel seines Programms aber mehr Statement in einer Zeit, in der Musikkonsum eine Art Fastfood geworden ist – fast immer und überall verfügbar und rasch sättigend ohne echte Nachhaltigkeit.
Der Intendant des Festivals hat ein Line-up zusammengestellt, das gleichermaßen Strahlkraft, Entdeckerlust und stilistische Offenheit verkörpert. Vom 17. April bis zum 9. Mai, ergänzt durch einen glanzvollen Extended-Abend im Juni, präsentiert sich ein Festival, das die Gegenwart des Jazz mit selten gesehener Klarheit ausleuchtet. Am Donnerstag stellte Materna das Programm der Presse vor – nicht ohne den stolzen Hinweis, dass es jede Menge Premieren geben wird rund um die Neuveröffentlichung von Alben. „Für viele Künstler ist solch ein Auftritt bei einem Festival wichtig, weil man sie dort als Ganzes wahrnimmt, so wie auch ihre Alben als ein rundes Werk zu sehen sein sollten“, so Materna.
Erstmals gibt es mehr als 10.000 Tickets
Schon zu Beginn der Präsentation macht Materna deutlich, wie sehr sich das Festival in seiner Wahrnehmung und Reichweite verändert hat. Die Marke von 10.000 verkauften Tickets wird in diesem Jahr überschritten – ein Ziel, das er seit Jahren verfolgt und das durch die Wiedereröffnung der Beethovenhall in Bonn zusätzlichen Schub erhält. Dass nun ausgerechnet Jan Garbarek in der wohl teuersten Mehrzweckhalle Deutschlands mit einem Sanierungsvolumen von weit über 220 Millionen Euro den Auftakt gestaltet, ist weit mehr als programmatische Fügung.

Garbarek steht für einen Klangkosmos, der das europäische Jazzverständnis geprägt hat wie kaum ein anderer. Materna nennt ihn „eine Mega-Ikone“, die nicht nur sein eigenes Saxophonspiel, sondern die gesamte moderne Jazzästhetik geprägt hat. Und er verbindet die Rückkehr der Beethovenhalle mit einem persönlichen Bekenntnis: „Ich finde die Halle toll. Sie ist multifunktional und ein sehr prestigeträchtiger Ort.“ Am 17. April 2026 wird dort also die 17. Ausgabe des Jazzfest Bonn eröffnet – übrigens mit dem Perkussionisten Trilok Gurtu, mit dem er schon vor gut 40 Jahren in der Jazzgalerie aufgetreten ist.
KI in der Musik
Überhaupt zieht sich ein Leitmotiv durch das gesamte Programm: die Betonung des Menschlichen in einer Zeit, in der Algorithmen und digitale Prozesse längst Einfluss auf die musikalische Welt genommen haben. Materna beschreibt, wie sehr sich seine kuratorische Arbeit verändert hat – von jahrelangen Reisen zu Clubs und Festivals hin zu digitalen Entdeckungen. „Ich verbringe viel mehr Zeit am Rechner“, sagt er über seine heutige Arbeitsweise. Gleichzeitig seien die massiven Veränderungen durch die digitale Verwertung nicht zu übersehen, denn „die Plattformen verdienen Geld mit den Inhalten, lassen aber die Künstler oft gar nicht oder nur gering partizipieren“. Dennoch eröffne die digitale Welt auch neue Chancen, gerade weil junge wie ältere Künstler Sichtbarkeit erhalten, „die sie vor dieser Entwicklung schlicht nicht hatten“.
Shai Maestro und Kurt Elling
Diese Haltung – die Mischung aus Anerkennen und Hinterfragen des digitalen Wandels – spiegelt sich bereits in den ersten Abenden wider. Die Kombination aus Shai Maestro und Kurt Elling in der Bundeskunsthalle entstand, weil überraschend beide Künstler für denselben Termin zusagten. Materna kommentiert das trocken: „Why not? Eröffnungswochenende, dann machen wir es mal so.“ Das Ergebnis ist ein außergewöhnlich dichter Auftakt, der Maestro mit seiner poetischen Klarheit und Elling mit seinem energiegeladenen Funk-Projekt „SuperBlue“ vereint.
Auch das Vokalquartett Of Cabbages And Kings in der Kreuzkirche folgt einer akustischen Logik, die Materna bei früheren Konzerten dort beobachtet hat. Die Kreuzkirche sei ein Raum, in dem „Mehrstimmigkeit wunderbar klingt“ und minimalistische Stimmen eine besondere Tiefe entfalten können.
Hildegunn Øiseth und Caris Hermes
Zu den programmatischen Highlights gehört die von Materna angeregte Zusammenarbeit um die Bassistin Caris Hermes, die im Pantheon ein Projekt präsentiert, das bewusster als sonst jenseits des Swing angelegt ist. Hermes habe seine Anregung „sofort verstanden“, sagt er, und in kürzester Zeit ein Ensemble zusammengestellt, das ihre vielseitige musikalische Persönlichkeit unterstreicht.
Anschließend zeigt die norwegische Trompeterin Hildegunn Øiseth, wie eigenständig Jazz klingen kann, wenn traditionelle Klänge – in ihrem Fall ein Ziegenhorn – auf zeitgenössische Formen treffen. Materna spricht von einem Instrument, „das wir alle vermutlich noch nie gehört haben im Jazz“, und beschreibt, wie schwer es zu spielen sei: „Sie arbeitet im Prinzip nur im Ansatz.“ Wer sie im vergangenen Jahr als Teil des Sarah Chaksad Large Ensemble erlebt hat, wird ahnen, was für ein tolles Erlebnis uns da erwartet.
Yumi Ito und Donny McCaslin
Eine weitere Entdeckung ist der britische Gitarrist Rob Luft, dessen ECM-Debüt Materna überzeugte. Luft spiele „interessant, virtuos, ohne zu übertreiben“ – ein feines Lob aus dem Mund eines Programmgestalters, der jährlich zehntausende Künstleranfragen sichtet. Das Duo von David Helbock und Julia Hofer, auf das Materna seit Jahren schielt, vervollständigt den Abend.
Mit Yumi Ito und Donny McCaslin am 24. April öffnet sich ein Abend, der gleichermaßen experimentell wie atmosphärisch dicht angelegt ist. Ito beeindruckt durch ihre Fähigkeit, mit Stimme und Klavier eine eigene Klangwelt zu formen – das, was Materna stets sucht: „eine eigene künstlerische Welt“. McCaslin wiederum bringt jene energetische Brillanz mit, die ihn zum zentralen Mitgestalter von David Bowies „Blackstar“ gemacht hat. Seit dieser Produktion habe er McCaslin „auf dem Schirm“.
Ältere und jüngere ostdeutsche Jazzpersönlichkeiten
Einen besonderen Akzent setzt das Konzert im Haus der Geschichte, das ältere und jüngere ostdeutsche Jazzpersönlichkeiten in einen musikalischen Dialog bringt – inspiriert von der Ausstellung „Du bist ein Teil der Geschichte Deutschlands seit 1945“. Materna hält diese Kombination zweier Generationen für „total interessant“, gerade weil sie offenlässt, ob Herkunft prägend oder irrelevant ist. Der legendäre Schlagzeuger Günter Baby Sommerund Pianist Ulrich Gumpert, zwei prägende Figuren der ostdeutschen Jazzgeschichte, zeigen frei improvisierte Intensität. Danach präsentieren Theresia Philipp und Sebastian Scobel filigranen Kammerjazz zwischen Komposition und offener Form.
Stille, intensive Momente
Auch das Collegium Leoninum wird erneut zu einem Ort stiller, intensiver Momente. Die belgische Pianistin Marlies Debacker schafft mit minimalen Mitteln Räume von großer Wirkung – etwas, das Materna als „höchstes Gut“ künstlerischer Arbeit bezeichnet. Die spanische Gitarristin und Sängerin Lau Noah wiederum entdeckte er ausschließlich über digitale Wege. Sie verbinde ihr polyphones Gitarrenspiel „in Bach-Manier“ mit einer emotional klaren Stimme, was ihn sofort überzeugt habe.
Mit dem International Jazz Day am 30. April schaltet das Festival in den Groove-Modus: Nicole Zuraitis und Shake Stew verwandeln den Post Tower in ein pulsierendes Klanglabor. Shake Stew hinterlässt mit seinen zwei Drummern und zwei Bässen stets einen nachhaltigen Eindruck, denn dieser Sound, sagt Materna, „geht wirklich unter die Haut“ und sei „groovy bis zum Geht-nicht-mehr“.
John Scofield, Iiro Rantala, Billy Cobham …
Das weitere Programm – mit Persönlichkeiten wie John Scofield, Iiro Rantala, Billy Cobham, Wolfgang Muthspiel, Silje Nergaard oder Rabih Abou-Khalil – zeigt die ästhetische Bandbreite, die Materna in diesem Jahr bewusst weit geöffnet hat. Auffällig ist der Gitarrenschwerpunkt, der sich „fast von selbst ergeben“ habe, weil er ungewöhnlich viele hochwertige Bewerbungen erhielt.
Das große Finale steckt voller orchestraler Kraft: Das Fuchsthone Orchestra sowie das UMO Helsinki Jazz Orchestra mit Jazzmeia Horn markieren im Telekom Forum einen Abschluss, der gleichermaßen kraftvoll wie elegant ausfällt. Und schließlich setzt der Extended-Abend im Juni mit Esperanza Spalding einen strahlenden Schlusspunkt. Für Materna ist sie eine der Stimmen, „die weit über den Festivalrahmen hinaus strahlen“.
Am Ende bleibt der Eindruck eines Festivals, das seine Haltung nicht nur formuliert, sondern hörbar macht. In einer Zeit technologischer Beschleunigung setzt das Jazzfest Bonn auf Persönlichkeit, Erfahrung, Handschrift und Begegnung – auf das, was bleibt. Die Musik, die hier entsteht, ist nicht Produkt eines Algorithmus, sondern Ausdruck eines lebendigen Denkens und Fühlens. Oder, wie Materna es sagt: „Jazz bleibt ein zutiefst menschlicher Ausdruck – besonders heute.“

Jazzfest Bonn 2026: Terminübersicht
Jazzfest Bonn 2026 vom 17. April bis 9. Mai
• Freitag, 17. April 2026, 19 Uhr, Beethovenhalle
Jan Garbarek Group feat. Trilok Gurtu
• Samstag, 18. April 2026, 19 Uhr, Bundeskunsthalle
Shai Maestro The Guesthouse Quartet | Kurt Elling SuperBlue
• Sonntag, 19. April 2026, 19 Uhr, Kreuzkirche
Of Cabbages And Kings
• Mittwoch, 22. April 2026, 19 Uhr, Pantheon
Caris Hermes Group | Hildegunn Øiseth Quartet
• Donnerstag, 23. April 2026, 19 Uhr, Pantheon
Rob Luft Trio | David Helbock & Julia Hofer
• Freitag, 24. April 2026, 19 Uhr, Pantheon
Yumi Ito | Donny McCaslin
• Samstag, 25. April 2026, 19 Uhr, Haus der Geschichte
Günter Baby Sommer & Ulrich Gumpert | Theresia Philipp & Sebastian Scobel
• Sonntag, 26. April 2026, 19 Uhr, Collegium Leoninum
Marlies Debacker | Lau Noah
• Donnerstag, 30. April 2026, 19 Uhr, Post Tower
Nicole Zuraitis | Shake Stew
• Freitag, 1. Mai 2026, 19 Uhr, Opernhaus
John Scofield & Gerald Clayton | Marius Neset CABARET
• Samstag, 2. Mai 2026, 19 Uhr, Pantheon
Iiro Rantala TRINITY | The Billy Cobham 5tet
• Sonntag, 3. Mai 2026, 19 Uhr, Pantheon
Kadri Voorand & Mihkel Mälgand | Wolfgang Muthspiel Chamber Trio
• Mittwoch, 6. Mai 2026, 19 Uhr, Volksbank ErlebnisCenter Gangolfstraße
Markus Segschneider | MORLEY
• Donnerstag, 7. Mai 2026, 19:30 Uhr, Bonner Münster
Silje Nergaard Guitar Trio
• Freitag, 8. Mai 2026, 19 Uhr, Kreuzkirche
Rabih Abou-Khalil Group
• Samstag, 9. Mai 2026, 19 Uhr, Telekom Forum
Fuchsthone Orchestra | UMO Helsinki Jazz Orchestra feat. Jazzmeia Horn
Jazzfest Bonn Extended
• Samstag, 27. Juni 2026, 19 Uhr, Opernhaus
Anton Mangold Quintett | Esperanza Spalding