Inspirationen, Hoffnungen, Jazz: Interview mit Franco Ambrosetti und Greg Osby

Im Interview: Franco Ambrosetti (links) und Greg Osby in Gespräch mit Cem Akalin. FOTO: Nicolas Ottersbach

Der eine ist eine europäische Jazzlegende mit einem ungewöhnlichen Lebenslauf, der andere eine Ikone der amerikanischen Hardbop-Szene, einer der Mitbegründer des New Yorker M-Base-Kollektivs, einer Art Jazz-Bewegung um Leuten wie Steve Coleman, Gary Thomas und Cassandra Wilson Anfang der 1990er Jahre. Sie hatten sehr dezidierte, sehr intellektuelle Ansichten davon, wie sie sich den Gegenwarts-Jazz vorstellten. Sie rissen die Strukturen auf, rhythmisch wie strukturell, entfernten sich von dem, was man als „westliche Kultur“ versteht und entwickelten einen energiegeladenen Jazz, der seine Wurzeln im Bebop, aber insbesondere auch in der afrikanischen Musik und den urbanen Einflüssen New Yorks hat. Greg Osby, 54, gilt in der Welt der Improvisierten Musik als einer der ungewöhnlichsten Alt-Saxophonisten.

Ungewöhnlich ist auch Franco Ambrosetti. Der 73-jährige Schweizer kommt aus einer Industriellenfamilie. Schon sein Vater Flavio Ambrosetti machte sein Geld mit der Produktion von Maschinen, galt aber als hervorragender Saxophonist und trat auf Internationalen Jazzfestivals auf. Franco Ambrosetti gilt aufgrund seines glühenden Spiels auf der Trompete und dem Flügelhorn als einer der wichtigsten Vertreter des Hardbops in Europa.

After The RainMit seinem hochkarätig besetzten Sextett präsentierte Franco Ambrosetti auf dem Jazzfest Bonn sein neues Album „After The Rain“, das am 19. Juni 2015 erscheint (Enja Records ‎– ENJ-9642-2). Es war eines der ganz seltenen Auftritte der Band, zu der auch Ambrosettis Sohn Gianluca (Sopransaxophon), Terri Lyne Carrington (Drums), der legendäre Bassist Buster Williams und Dado Moroni (Klavier) gehören.

Wir treffen Ambrosetti und Osby im Restaurant des Hotel Königshof, wo der Lärm des Personals den Pegel einer Bahnhofsgaststätte erreichte. Ambrosetti und Osby ließen sich ihren Tee dennoch schmecken. Mit ihnen sprach Cem Akalin.

Auf der Bühne: (von rechts) Greg Osby, Franco und Gianluca Ambrosetti auf dem Jazzfest Bonn am 15. Mai 2015. FOTO: JFB
Auf der Bühne: (von rechts) Greg Osby, Franco und Gianluca Ambrosetti auf dem Jazzfest Bonn am 15. Mai 2015. FOTO: JFB

Wenn man sich Eure bisherigen Alben hört, dann hat man eher den Eindruck, dass es da so manche Gegensätze in Euren Ansätzen gibt. Stimmt das?

Greg Osby: Der Wegweiser eines Künstlers ist doch, wer kann sich an seine Umwelt anpassen und wer täuscht das nur vor. Die Frage ist, ob du auch in jedem Moment gut klingst, egal mit wem du spielst. Viele Künstler kommen irgendwann zu einem Punkt, wo sie nur in ihrer eigenen Blase leben, in der sie gut klingen. Holst du sie aber aus ihrem gewohnten Kontext heraus, dann gehen sie unter wie ein Stein im Wasser.

Franco Ambrosetti: (lacht) Sehr richtig!

Osby: Ich spiele gerne mit Leuten, die mich respektieren und die mich reizen. Das trifft auf Franco zu. Ich spiele nicht mit jedem, ich bin da sehr wählerisch. Wenn er etwas spielt, das mich wie ein Elektroschock trifft, dann kann ich damit arbeiten. Ich spiele sonst exklusiv mit meiner eigenen Band. Ich spiele nur dann mit anderen, wenn ich etwas lernen und etwas zu der Musik beitragen kann.

Franco, warum haben Sie Greg Osby für Ihr John Coltrane-Projekt gewählt?

Franco Ambrosetti: "Ich bin ja kein Typ, der in der Musik irgendwas vorplant." FOTO: Ottersbach
Franco Ambrosetti: „Ich bin ja kein Typ, der in der Musik irgendwas vorplant.“ FOTO: Ottersbach

Ambrosetti: Ich bin einfach begeistert von Gregs Spiel, das bestimmt ist von einem großen Respekt vor den Regeln, womit ich die unterschiedlichen Ansätze meine, die wir tatsächlich haben. Ich komme aus dem Hardbop, so wie mein Vater. Ich bin ja mit all diesen Veränderungen im Jazz der 1950er, 60er Jahre aufgewachsen. Greg hat einen sehr energischen Ansatz, und er ist einer, der sich auf neue Herausforderungen einlässt. Das ist ja nicht unser erstes gemeinsames Projekt.

Osby: 1988 haben wir “Movies Too” unter anderem mit Geri Allen aufgenommen, ein Jahr später „Music for Symphony & Jazz Band“.

Was ist das Besondere an diesem Sextett, mit dem Ihr gerade tourt?

Ambrosetti: Es ist die Zusammenstellung. Ich bin ja kein Typ, der in der Musik irgendwas vorplant. Es muss ganz natürlich fließen in der Musik, ohne groß nachzudenken. Und wenn ich komponiere, dann habe ich nicht das Ziel etwa eines Erfolges vor Augen, sondern ich schreibe, was ich fühle. Das war hier auch so. Ich hatte eine Reihe von Kompositionen und ich habe darüber nachgedacht, wie ich das umsetzen kann. Und ich wollte, dass diese Coltrane-Referenz auch irgendwie honoriert werden sollte. Mein Sohn Gianluca ist sehr Coltrane-orientiert, sehr intervallig. Das war schon mal gut. Dann brauchte ich jemanden, der mir Druck macht, mit dem ich zusammenpralle. (lacht) Und das ist eben Greg. Für die Rhythmusgruppe wollte ich schon seit vielen Jahren Terri Lyne Carrington haben, und Dado Moroni? Wir spielen schon ein ganzes Leben zusammen. Und dann ist da noch Buster Williams, eine Jazzikone. Was soll ich zu ihm noch sagen? Wir haben schon 1983 zusammen gespielt, auf einem Album „Wings“ mit Michael Brecker. Buster war am Bass und Daniel Humair am Schlagzeug.

Wie wichtig ist die Vertrautheit untereinander? Vater und Sohn, Bruder und Schwester…

Ambrosetti: Sehr wichtig.

Greg Osby: Neugierde bildet die Plattform für Kreativität und fortschrittliche Musik. FOTO: Ottersbach
Greg Osby: Neugierde bildet die Plattform für Kreativität und fortschrittliche Musik. FOTO: Ottersbach

Herr, Osby, Sie haben mal gesagt, Terry Lyne Carrington sei wie eine Schwester für Sie…

Osby: Ja, das ist sie. Als ich noch zur Schule ging, haben mich ihre Eltern sehr unterstützt. Sie kommt ja aus einer sehr musikalischen Familie. Es gab immer wieder Punkte, an denen ich die Hochschule schmeißen wollte, aber sie haben dazu beigetragen, dass ich durchgehalten habe. Als ich dann später in New York lebte und Terri auch hinziehen wollte, da wollten ihre Eltern, dass sie zu mir zieht, damit jemand für sie da ist. Ich hatte ein großes Apartment, und wir lebten viereinhalb Jahre zusammen, bis sie später nach Los Angeles zog. Ja, wir stehen uns sehr nahe. Wir reden über Musik, über Träume, Hoffnungen, Inspirationen…

Franco, Greg, Sie beide haben sicherlich dieselben Wurzeln, aber wo liegen die Unterschiede? Was haben Sie beide gemein?

Osby: Was uns verbindet, ist erstmal die Neugierde. Sie bildet die Plattform für Kreativität und fortschrittliche Musik. Ohne Neugier kommst du nicht zum nächsten Level, ohne sie gibt es keine Komplexität. Wenn du mit dem zufrieden bist, was du hast, bleibst du einfach in deiner Spur, du kommst einfach nicht aus deinem Abteil heraus. Ja, wir reden hier übers Geschäft…! (lacht)

Franco, wenn man Ihre Musik malen würde, wie sähe sie aus? Welcher Künstler kommt ihr am nächsten?

Ambrosetti: Die Musik von Billie Holiday kommt sicherlich den Impressionisten nahe. Sie hat einen klaren Rahmen und einen farblich-akzentuierten Ausdruck. Bei mir ist es vielleicht Kandinsky, aber auch Jackson Pollock. Dann gibt es Musiker, die eher monografisch wie Mark Rothko sind. Miles Davis zum Beispiel. Vor allem gegen Ende. Nicht viele Noten, aber die eine, die wirklich zählt.

Denken Sie in Bildern, wenn Sie komponieren, Greg?

Osby: Ich denke weniger in visuellen Bildern. Aber Formen, Symmetrien, Entwicklungen spielen bei mir schon eine Rolle. Ich bin vielleicht eher sowas wie ein Architekt. Es geht um Fundamente, Elemente und Komponente, die zusammengesetzt ein Gebäude ergeben.

Sie denken also eher in klaren Strukturen?

Osby: Ganz genau. Es geht in Richtung organisiertes Chaos, aber nicht soweit, dass du etwas festhalten musst. Ich meine, Chaos ohne Organisation ist einfach nur rücksichtslos. Ich baue lieber Dinge auf.

Franco, Sie haben auch Filmmusiken geschrieben. Und tatsächlich schafft Ihre Musik ungeheuer viel Raum für Kopfkino. Musik mit ausdrucksstarken Bildern.

Ambrosetti: Wissen Sie, ich versuche Geschichten zu erzählen. Wenn ich ein Solo spiele, dann ist es so, wie wenn ich jetzt mit Ihnen rede. Ich hoffe, dass Sie mich verstehen. Musik hat auch damit zu tun, anderen Menschen etwas mitzuteilen. Musik ist etwas Natürliches für mich. So gesehen, haben Sie Recht, wenn Sie sagen, da werden Bilder erzeugt.

Wir reden über Jazz: Greg Osby und Franco Ambrosetti. FOTO: Ottersbach
Wir reden über Jazz: Greg Osby und Franco Ambrosetti. FOTO: Ottersbach

Woran denken Sie, wenn Sie komponieren? Was ist wichtig bei der Improvisation?

Ambrosetti: Ich denke nicht an eine konkrete Geschichte, sondern daran, dass meine Musik berührt, dass sie beim Zuhörer ankommt.

Greg, bei Ihnen gibt es niemals Klischees, keine abgedroschenen Phrasen…

Ambrosetti: (lacht) Das ist wahr!

Wie machen Sie das? Wie haben Sie Ihren Stil entwickelt?

Osby: Das war ein sehr bewusster Prozess. Ich habe diese großen Institutionen des Jazz nicht übersprungen. Natürlich war ich ein großer Fan von Charlie Parker, Cannonball Adderley, Sonny Stitt… die natürlichen Vorgänger meines Instruments. Das ist Teil einer Verantwortung. Ein anderer Teil war für mich der Versuch, diesen Stil in eine andere Richtung zu entwickeln – ohne ihre Hinweise zurückzuweisen. Was ich jetzt tue, ist eigentlich eine Fortentwicklung auf ihrer Grundlage. All diese Informationen sind noch in meiner Musik vorhanden, aber sie sind verdeckt. Um mathematische oder architektonische Vokabenl zu benutzen: Die Form ist da, die Komponenten von Intervallen und Rhythmen sind vorhanden, die verschiedenen Schattierungen, Strukturen und Wellen, sie sind alle da. Aber du kombinierst sie mit anderen Farben, anderen Winkeln, du gibst ihnen eine andere Drehung. Die Materie ist dieselbe, es ist nichts Neues, du versetzt lediglich den Schwerpunkt.

Auf Ihrem Debütalbum „Greg Osby and Sound Theatre“ von 1987 war noch der Einfluss der japanischen Kultur sehr viel stärker zu hören. Wie sehr sind Sie tatsächlich davon beeindruckt? Von Klarheit und struktureller Makellosigkeit?

Osby: Damals war es für mich viel wichtiger als heute. Ich stand damals sehr auf Minimalismus und Ordnung. Es war fast sowas wie eine kompositorische Obsession. Und alles musste so pretiös sein, wie dieses Cover. (lacht) In meinem Haus ist alles ordentlich, die CDs alphabetisch geordnet, ich putze jeden Tag, alles ist geregelt, und meine Musik war damals auch so. Und ich habe mich auch für diese minimalistische Kunst interessiert. Meine Alben haben ein Muster. Jede CD reflektiert das, womit ich mich zu der Zeit beschäftigt habe. Ich war mal ein paar Monate in Brasilien, also verarbeitete ich viele Texturen aus der brasilianischen Musik. Das nächste Album ist geprägt von barocker Musik. Jede CD ist ein Spiegel, ein Teil der Chronologie, ein Schnappschuss jener Zeit.

Wie wichtig ist Euch Eure Unabhängigkeit?

Ambrosetti: Unabhängigkeit ist das wichtigste überhaupt im Leben.

Franco, man mag denken, als Industrieller verfügen Sie über grenzenlose Unabhängigkeit.

Franco Ambrosetti FOTO: JFB
Franco Ambrosetti FOTO: JFB

Ambrosetti: Ich habe da nicht über finanzielle Unabhängigkeit gedacht, sondern eher aus philosophischer Sicht. Frei zu sein, bedeutet, frei zu denken, keine Vorgaben zu bekommen, was richtig ist und was falsch, frei wählen zu können, welche politische Richtung man gehen will, frei über seine Kunst entscheiden zu können.

Dieser Freiheitsdrang, das Streben nach dem einzigartigen Ausdruck, wo kommt der her? Können Sie das aus Ihrer Biografie erklären, Greg?

Osby: Als Menschen und Künstler sind wir Produkte unserer Erfahrungen, unserer Geschmäcker, unserer Sehnsüchte. Es gibt Komponenten, die wir mit unserem Schaffen ernten, die uns helfen, uns selbst genauer zu definieren. Als Künstler gibt es Dinge, die du magst, Dinge, die du respektierst, die aber nicht notwendigerweise Teile deiner Kunst werden. Unglücklicherweise gibt es im Jazz-Paradigma die Vorstellung, dass wir all das reflektieren müssen, was es vor uns gegeben hat. Da gibt es etwa die Leute, die sagen: Ich höre den Blues in deinem Spiel nicht.

Und was sagen Sie denen?

Osby: Ich sage: Okay, mein Vater ist aus New Orleans, meine Mutter aus Mississippi. Das sind zwei Regionen, wo der Blues entstand. Ich bin aus St. Louis. Ich bin ein schwarzer Kerl. Das kannst du nicht rauswaschen! Natürlich bestehe ich aus all diesen Dingen. Aber als Weltreisender sollte meine Musik auch die Welt reflektieren. Korea, China, Indonesien, Istanbul, Griechenland, was auch immer, sollte meine Musik beeinflussen. Ansonsten wären diese Erfahrungen doch vergeudet! Freiheit bedeutet für mich, ehrlich zu sein, aufrichtig mit Traditionen und all den Dingen umzugehen, die mein Leben ausmachen.

Ambrosetti: Weiß du, Blues ist ein Geisteszustand. Es hat nichts damit zu tun, ob du Blue Notes in deinem Solo spielst, oder nicht. Es ist ein Gefühl. Und du drückst es auf deine, ich auf meine Weise aus.

Ich frage mich, welche Musiker euch beeinflusst haben…

Ambrosetti: Das ist einfach…

Also?

Ambrosetti: Zuerst einmal Clifford Brown. Ich war in Clifford Brown verliebt, als ich beschloss, Trompete zu spielen. Der erste, den ich hörte, war Conte Candoli. Fantastischer Spieler bei Stan Kenton. Als ich studierte, standen alle meine Kommilitonen auf Chet Baker. Aber der zweite große Einfluss auf mich, das war John Coltrane.

Ein Saxophonist?

Ambrosetti: Ja, deshalb habe ich auch dieses neue Album gemacht. Es gab tatsächlich eine Periode in meinem Leben, wo ich mit der Trompete aufhören und aufs Tenor umsteigen wollte. Wirklich! Aber dann dachte ich mir, nein, setze deine Ideen auf der Trompete um. Das Problem war nicht, die Phrasen, die Coltrane spielte, technisch auf die Trompete zu übertragen, sondern, dass man, wenn man das tat, klang wie Freddie Hubbard!

Stimmt!

Ambrosetti: Ja! Freddie Hubbard tat eigentlich das gleiche wie John Coltrane! Coltrane hat Hubbard tatsächlich sehr beeinflusst.

Dennoch: Warum haben Sie sich überhaupt für die Trompete entschieden? Sie haben ja eigentlich mit dem Piano begonnen.

Ambrosetti: Ich war ein lausiger Pianist (lacht).

Osby: Und er ist es immer noch. (lacht)

Ambrosetti: Wenn Conte Candoli eine Ballade spielte, das war faszinierend. Ich war fasziniert von der Trompete. Sie ist sexy. Mein Vater hatte immer Trompeter in der Band, die mich ansprachen.

Greg, Sie haben eigentlich mit Klarinette begonnen.

Osby: Das war sehr kurzlebig. Sobald ich wusste, dass ich als Saxophonist mehr Geld machen konnte, war die Sache klar (lacht).

Sie wurden mal „der Grover Washington von St. Louis“ genannt.

Konzert Franco Ambrosetti Sextet 15.05.2015
Konzert Franco Ambrosetti Sextet 15.05.2015

Osby: Das stimmt. Ich war noch ziemlich jung und spielte in Pop-Bands und Blues-Bands. Und das ein Jahr, nachdem ich überhaupt Saxophon zu spielen begann.

Was ist dann passiert?

Osby: Irgendjemand gab mir eine Charlie Parker-Platte. Und das änderte alles. Bis dahin wusste ich nicht mal, dass ein Saxophon dieses Potenzial haben könnte. Ich habe ein sehr gutes Ohr und begann, die Stücke zu transkribieren. Ich begann Sonny Stitt und Cannonball Adderley zu hören und nachzuspielen.

Die haben Sie geprägt?

Osby: Eigentlich bin ich mehr von Komponisten beeinflusst worden, von der Organisation von Sounds und Klangfarben: Duke Ellington, Andrew Hill, Art Tatum, Charles Mingus, Clare Fischer, Claus Ogerman, Quincy Jones… auch Kammermusik…

Wissen Sie, man hört den Einfluss von Charlie Parker hin und wieder raus, aber nicht oft…

Osby: Ja, es schleicht sich seinen Weg immer wieder mal an die Oberfläche. Selbst wenn ich ein Bebop-Stück spiele, dann verfalle ich nicht unbedingt ins Bebop-Vokabular. Es ist kein Kampf, ich bin soweit von diesem Level entfernt, dass es nur bewusst eingesetzt wird. Ich denke nicht in diesen „Navigationen“.

Wie kommt’s?

Osby: Als ich in Berklee studiert habe, habe ich mich gefragt, wie kannst du eine eigene Identität entwickeln? Damals bin ich alle zwei Wochen nach New York gefahren, um in Jamsessions zu spielen. Und von denen gab es damals jede Menge. Du konntest bei zehn verschiedenen Jamsessions die Nacht spielen. In Queens, Brooklyn. Du wusstest, wo all die heißen Jazzer waren, wer der neue Kerl in der Stadt war. Und du wusstest ganz genau, wo du standst. Da gab es Steve Coleman, Kenny Garrett, die waren schon Jahre vor mir in New York. Meine Strategie war, so zu spielen, dass man in zwei Takten sofort heraushörte, wer ich war. Vom Sound und vom Material selbst. Weiß du, all die Typen wie Dexter Gordon, Bill Webster, John Coltrane, Don Byas, die konntest du in nur zwei Noten wiedererkennen. Deswegen spricht man über diese Musiker. Ich wollte eine Identität.

Und wie sind Sie da vorgegangen?

In Bonn: Franco Ambrosetti 15.05.2015 FOTO: Jazzfest Bonn
In Bonn: Franco Ambrosetti 15.05.2015 FOTO: Jazzfest Bonn

Osby: Ich schuf mir ein ganzes Bündel an kleinen Systemen, die mir Präsenz gaben: Ich arbeitete an meinem Rhythmus, an meiner Balance, an der Transposition der zwölf Tonarten, ich arbeitete an verschiedenen Tempi, ich transkribierte Art Tatum-Soli vom Piano aufs Saxophon, um meine Finger zu üben, in andere Richtungen zu gehen. Ich beschränkte mich also nicht auf das reine Altsaxophon-Gebilde. Ich stellte mich sozusagen außerhalb der üblichen Schublade der kulturellen Identität. Es war nicht einfach, etwa ein Posaunensolo von J. J. Johnson aufs Altsaxophon zu übertragen, um von den üblichen Phrasen wegzukommen. Oder ein Thelonious Monk-Solo auf dem Saxophon zu spielen oder ein Vibraphon-Solo von Bobby Hutcherson. Das bringt dich auf andere Wege, weil diese Soli schon mal gespielt werden können, ohne auf deine Atemtechnik achten zu müssen – oder eben eine andere zu entwickeln.

Das ist jetzt interessant! Viele Musiker erzählen mir, dass sie sich an völlig anderen Instrumenten orientieren. So wie Robben Ford, der sich mehr am Tenorsaxophon orientiert als an Gitarristen oder Al Di Meola, der sich bei seinen Kompositionen an Drummern und Perkussionisten orientiert. Ist das also das Geheimnis, eine eigene Identität zu entwickeln, einen eigenen Stil, indem man sich frei macht von seinem eigenen Instrument?

Ambrosetti: Mag sein. Ein anderer, der mich stark beeinflusst hat, war Michael Brecker.

Der Tenorsaxophonist.

Ambrosetti: Ja, auch einer, der stark von Coltrane geprägt war. Ich hörte viel Coltrane bei ihm heraus. Sein Bruder Randy, der ein guter Freund von mir ist, hat auch viel von ihm. Als wir einmal zusammen spielten, sagte ich zu ihm: Hey, Mann, was machst du da gerade. Das ist doch das Zeug, was dein Bruder spielte. (lacht)

 

Franco Ambrosetti

Geboren am 10. Dezember 1941 in Lugano, Schweiz.

Sein Vater, Flavio Ambrosetti, war, so wie er selbst, Industrieller und Jazzmusiker. Als Alt-Saxophonist war er Bandleader und einer der Bebop-Vorreiter in der europäischen Jazzszene in den 1940er Jahren.

Franco studierte zunächst klassisches Klavier, wechselte dann im Alter von 17 zur Trompete, das er als Autodidakt lernte. Er spielt auch Flügelhorn.

Seit 1961 steht er auf den internationalen Bühnen und spielte mit Gato Barbieri, George Gruntz, Kenny Clarke, Dexter Gordon, Johnny Griffin, Woody Shaw, Louis Hayes, Donald Bird, Michael Brecker, Kenny Kirkland, John Scofield, Ron Carter und vielen anderen.

 

Greg Osby

Geboren (3. August 1960) und aufgewachsen in St. Louis begann Greg Osby seine professionelle Musik-Karriere im Jahr 1975. Er studierte in Washington D.C. und Boston und gehört seit 1983 zur New Yorker Jazz-Szene. Er gehört zu den gefragtesten Saxophonisten und spielte unter anderem mit Herbie Hancock, Dizzy Gillespie, Jack DeJohnette, Andrew Hill, Marc Copland und Jim Hall.