Von Cem Akalin
Das deutsche Publikum reagierte zunächst konsterniert, dann empört, schließlich verärgert. Was Herbie Hancock am 7. Februar 1979 in der Bonner Beethovenhalle präsentierte, kam für Jazz-Puristen einem Eklat gleich. Begleitet von Leuten wie Bennie Maupin und Alphonse Mouzon spielte Hancock vor allem seinen von Disco und Funk geprägten Fun-Jazz. Kurzzuvor war seine LP „Sunlight“ erschienen, auf deren Cover er stolz eine Batterie von diversen Keyboards und anderen elektronischen Geräten zeigte. Wer einen akustischen Abend erwartet hatte, musste zwangsläufig enttäuscht sein. Vocodergesteuerte Gesänge, unterlegt von synthetischen Sounds, und das Ganze auch noch durchaus tanzbar, statt des klassischen Jazz-Quintetts. Am Ende gab es mehr Buh-Rufe als Applaus.
Hancock war schon immer ein Musiker, der gerne überraschte, der sich stets für neue Entwicklungen interessierte. Manche sagen, er sei der Visionär des Jazz. Immerhin hat der so alterslos aussehende Jazzpianist schon eine Karriere hinter sich, die ganze Bücher füllen könnte. Mit Elf gab er bereits Konzerte mit dem Chicago Symphony Orchestra, mit 20 holte ihn Donald Byrd nach New York, mit 22 präsentierte er beim Label Blue Note sein Debut und gleich den ersten Hit mit dem gospel-orientierten „Watermelon Man“. Am Sonntag, 12. April 2015, wird Herbie Hancock 75 Jahre alt.
Herbert Jeffrey Hancock wurde am 12. April 1940 in Chicago/Illinois als Sohn eines Lebensmittelladenbesitzers und einer Sekretärin geboren. Schnell wird klar, dass in diesem Jungen einiges steckt. Er überspringt zwei Klassen, lernt und liebt das Klavierspielen, er ist so etwas wie ein Wunderkind. Mit elf gibt er sein erstes Solokonzert. Er interpretiert Mozarts Klavierkonzert Nr. 5 in D-Dur – in Begleitung des Chicago Symphony Orchestras. Er ist grad erst 22 Jahre alt, als auf seinem Debütalbum „Takin‘ Off“ schon so bekannte Musiker wie Dexter Gordon und Freddie Hubbard mitspielen. Und Hancock gelingt sofort einHit mit „Watermelon Man“.
1963 gehört er schon zu Miles Davis‘ legendärem Quintett. Mit Wayne Shorter, Ron Carter und Tony Williams revolutionierte er das starre traditionelle Konzept, das der Jazz der Rhythmus-Truppe und ihrer Beziehung zu den Solisten zugewiesen hatte. Was diese Truppe zu Stande brachte, ist kaum beeindruckender dokumentiert als auf „the complete live at the plugged nickel 1965“ (Sony 1995). Hancock war dabei, als Rock und Jazz zueinanderfanden, als „Mwanddishi“ (Suaheli für Komponist) mischte er Anfang der 70er Jahre Jazz, Rock, afrikanische und indische Musik mit elektrischen und akustischen Instrumenten. Es folgen Hits, die sogar die Pop-Charts erreichen, wie „Chameleon“, „Rockit“ und andere. Er beeindruckt mit etlichen Filmmusiken, unter anderem für Antonionis „Blow up“, für „Round Midnight“ bekommt er 1986 den Oscar.
Herbie Hancock verdankt die Jazzwelt unvergessene Alben wie Maiden Voyage (1965), Head Hunters (1973), V.S.O.P. (1976), Mr. Hands (1980), A Tribute to Miles (1992) oder River: The Joni Letters (2007).
Am 30. November 2001 sind die Zuschauer im Kölner E-Werk ähnlich konsterniert über den Dancefloor-unterlegten Electro-Jazz-Pop. Hancock war auf Tour, und wieder einmal hatte er Neues gewagt. Auf seiner damals gerade erschienenen CD „Future2Future“ geht er eine Allianz mit der DJ- und Club-Kultur Londons und New Yorks ein. Er lässt den Jazz verschmelzen mit rhythmischen Strukturen des drum ’n‘ bass, des Trance und Hip-Hop. Er schafft eine geradezu globale Musiksprache, indem er sich aus dem reichen Fundus vieler Kulturen bedient: ethnische Klänge wie afrikanische Gesänge, Umweltgeräusche, gesprochene Botschaften. Über plappernden drum ’n‘ bass-loops liegen geradezu minimalistische Melodien, eindringliche Gesänge über summenden, polyrhythmischen Soundmalereien, perlende Pianolinien zum anmutigen Saxophon Wayne Shorters. Das Album hätte Miles Davis Spaß gemacht. „Doch seine Seele schwingt unüberhörbar mit.
Auf jener CD gibt eine ganze Reihe von Bezügen zu Underground-Dingen, die sich in der Musik des beginnenden 21. Jahrhunderts tun“, sagte Hancock. „Die Musik auf diesem Album ist ein gewagtes Bekenntnis zu den kreativen Möglichkeiten, die dieses Jahrhundert zu bieten hat.“ Dazu gehört, dass Hancock Veteranen wie Jack DeJohnette und Wayne Shorter mit jungen Musikern wie Carl Craig, Rob Swift und A Guy Called Gerald zusammenarbeiten lässt – ein Prinzip, das er von einem seiner frühen Förderer, eben von Miles Davis, übernahm.
Dem Pianisten und Komponisten ging es 2001 noch um etwas anderes, nämlich den künstlerischen Versuch aus dem Labor (sprich: Studio) unter realen Bedingungen (sprich: auf der Bühne) zu wiederholen. Technisch gesehen bedeutet das vor allem, dass mit Surround Sounds und Visual Displays gearbeitet wird, das Publikum also von der Musik umkreist werden wird und dazu abstrakte Videos zu sehen bekommt. Dem Element der Überraschung soll eine ganz besondere Rolle zugewiesen werden. Und von Technik war Hancock, der als Zweitfach Elektrotechnik studiert hat, sowieso schon immer fasziniert.
Hancock ist und bleibt unberechenbar. So sehr er sich für jede technische Entwicklung interessierte, 1978, ein Jahr vor der bunten Jazz-Pop-Elektro-Tour hatte er noch einen völlig anderen Ansatz. Gemeinsam mit Chick Corea ging er auf eine Duo-Tournee, auf der die beiden völlig auf technische Spielereien verzichteten. Es waren nur zwei Flügel und die vier Hände dieser beiden großen Musiker. Diese Spur nehmen die beiden jetzt wieder auf.
Seit mehr als einem halben Jahrhundert sind die beiden ihre eigenen Wege der künstlerischen Innovation gegangen: Von den großen Miles Davis Bands der 1960er Jahre zu Stadionfüllenden Ereignissen, die genreübergreifenden, ja, genrebrechenden Bandprojekte Headhunter und Return to Forever in den 1970er Jahre. Corea und Hancock gehören zu den wichtigsten Einflüssen der Jazzmusik. Die bejubelten Konzerte von damals wurden auf zwei Live-Alben festgehalten: „CoreaHanc
ock” und „An Evening with Herbie Hancock & Chick Corea: In Concert”. Am 11. Juli kann man die beiden ab 20 Uhr im Alfried Krupp Saal in Essen live erleben.