Ian Anderson präsentiert mit Jethro Tull in Bonn „Thick As A Brick“

Ian Anderson, 2008 auf der Bonner Museumsmeile. FOTO: Horst Müller

Eines ist Ian Anderson sicherlich nicht: unpolitisch. Wenn es um Politik geht, kann sich der 65-jährige Chef der britischen Band Jethro Tull fast in Rage reden. Anderson über Margret Thatcher: „Mindestens 50 Prozent der Briten hassen sie.“ Über Tony Blair: „Man wird sich an ihn nur im Zusammenhang mit dem Krieg in Afghanistan und Irak erinnern.“ Der Irak-Krieg: „Das war ein schwerer Fehler. Es hätte andere, bessere Wege der Konfliktlösung gegeben.“

Cem Akalin und Ian Anderson FOTO: Zoe Akalin
Cem Akalin und Ian Anderson FOTO: Zoe Akalin

Andersons Texte haben oft einen politischen oder sozialen Hintergrund. Nicht umsonst hat der Frontmann, Multiinstrumentalist und wohl der einzige ernsthafte Querflötist der Rockszene das Opus „Thick as A Brick“ von 1972 unlängst fortgeschrieben. Beide Alben stehen im Zentrum der aktuellen Tour. Aber obligatorischer Abschluss eines jeden Konzertes ist und bleibt: „Locomotive Breath“. Mit Anderson sprach Cem Akalin.

Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie oft Sie das Stück“Locomotive Breath“ live gespielt haben?

Ian Anderson So um die 3.500 Mal, werden es schon gewesen sein.

Und Sie lieben den Song noch?

Anderson Oh, ja, er ist mir sehr wichtig.

Warum?

Anderson Weil er Probleme anspricht, die heute noch aktuell sind. Überbevölkerung, den wachsenden Konkurrenzdruck, den Egoismus unter den Menschen, für all das steht die Metapher von diesem wahnsinnigen Zug, den du einfach nicht stoppen kannst.

Können Sie sich erklären, warum dieser Klassiker aus Ihrem Album „Aqualung“ die Menschen heute noch so anspricht?

Anderson Das ist der Rhythmus, die Wiederholungen, der simple Gitarrenriff, die Melodie. Ich weiß nicht, ob sich die Leute wirklich mit dem Problem beschäftigen, um das es da geht. Meiner Meinung nach ist die Überbevölkerung für die Politik eine der großen Herausforderungen der Zukunft. Stellen Sie sich mal vor: In einigen Jahren werden neun Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Die Frage ist, wie gehen wir mit unseren Ressourcen verantwortungsvoll um? Was bedeutet das fürs Klima? Welche Konsequenzen muss man da für die Gesellschaft ziehen? Wie viele Kinder darf man noch auf die Welt bringen? Sind mehr als zwei pro Familie schon eigensüchtig?

Jethro Tull 2003 in Bonn. Foto: Horst Müller
Jethro Tull 2003 in Bonn. Foto: Horst Müller

Haben Sie mal dran gedacht, in die Politik zu gehen?

Anderson Nun, heute bin ich mit 65 Jahren eindeutig zu alt.

Na, kommen Sie!

Anderson Wenn du in die Politik willst, musst du das für 20 Jahre planen, um mal in die Position zu kommen, in der du wirklich etwas bewegen kannst. Doch Sie haben Recht, ich habe mal darüber nachgedacht, weil mich einige Menschen, die selbst politisch aktiv waren, dazu ermuntert haben.

Aber?

Anderson Ich bin Musiker, und das macht mir viel zu viel Spaß, um mich den Qualen und Schmerzen der Politik hinzugeben.

Stimmt es, dass Sie bei „Locomotive Breath“ erst alle Instrumente selbst gespielt haben und die anderen Bandmitglieder von dem Song überzeugen mussten?

Anderson Ich habe die Rhythmussektion und einige Gitarrenparts eingespielt. Denn die Jungs von der Band kamen nicht so richtig in den Groove rein. Heute ist das kein Problem, die Jungs in meiner Band können alle gut vom Blatt spielen.

Die Querflöte ist eher ein Instrument des Barock als des Rock. Auch im Jazz hat sie sich erst spät durchgesetzt durch Leute wie Herbie Mann, Joe Farrell oder Roland Kirk, der Sie ja inspirierte. Wie sind Sie zur Querflöte gekommen?

Anderson Das hatte zunächst etwas mit der Ästhetik der Querflöte zu tun: dieser Glanz, diese Kompaktheit. Ihre Perfektion hat etwas von einer Schweizer Uhr. Ich liebe solche Dinge, die Handwerkskunst von Uhren, Kameras und eben Flöten. Diese Ergonomie, wie sie in der Hand liegt. Ich liebte erst ihre Gestalt, bevor ich mir überlegte, was ich damit anfangen könnte.

Wann bekamen Sie Ihre erste Querflöte?

Anderson Im August 1967.

Das war ja praktisch kurz bevor Sie Jethro Tull gründeten?

Anderson Stimmt. Und ich habe erst im Dezember 1967 begonnen, auf ihr zu spielen. Als Jethro Tull am 11. Februar 1968 ins Leben gerufen wurde, habe ich die Querflöte also erst vier oder fünf Wochen gespielt. Ich musste erst herausfinden, wie ich sie einsetze. Ich stand auf Blues, Jazz, ein wenig auf Folk.

Aber wohl auch auf Klassik.

Anderson Eher auf Kirchenmusik. Mich haben Blues und Rock aber am meisten beeinflusst. Und mein Querflötenspiel ist ganz stark von Eric Clapton geprägt worden.

Von Clapton, dem Gitarristen?

Anderson Ja, ich wollte die Querflöte wie eine Gitarre spielen, die Riffs, die Improvisationen und diese Dynamik. Ich habe den Jazzer Roland Kirk erst später entdeckt. Aber ich habe schnell aufgehört, mir andere Flötisten anzuhören, höchstens Musiker, die aus der Klassik kamen, auch einige Folkflötisten. Und ich mag auch wirklich keinen Flötisten aus der Rock- oder Popszene. Ich halte mir bei vielen die Ohren zu.

Die Querflöte hat sich im Rock nur in den sechziger, siebziger Jahren gehalten. Da gab es Walter Parazaider von Chicago, Ray Thomas von Moody Blues, Thijs van Leer von Focus oder Peter Gabriel bei Genesis. Gabriel hörte nach dem Ausstieg bei Genesis 1975 auf, die Querflöte einzusetzen. Haben Sie eine Erklärung?

Ian Anderson 2001 in Bonn. FOTO: Horst Müller
Ian Anderson 2001 in Bonn. FOTO: Horst Müller

Anderson Die Querflöte war in der Tat kein erfolgreiches Instrument im Rock, auch weil sie extrem schwierig in die Musik zu integrieren ist. Leute wie Ray Thomas haben sie nur als dekoratives Element eingesetzt. Sie war bei vielen nur so was wie eine Christbaumkugel am Weihnachtsbaum.

Und bei Ihnen?

Anderson Mein Stil ist dominanter, aggressiver als der von Ray Thomas. Egal, wer in einer Rockband die Querflöte einsetzt: Er wird immer an mir gemessen. Denn es gibt keinen anderen Vergleich. Ich bin nach wie vor der Spielführer.

Wie kam es eigentlich zu Ihrer berühmten Kranichpose?

Anderson Das war im Marquee Club in London, Februar 1968. Ein Musikkritiker schrieb, wie ich auf einem Bein stehend die Flöte spielte. Es wurde ein Markenzeichen. 1991, als ich in Indien auftrat, gab es etwas Missstimmung, weil die Menschen meinten, ich würde die Gottheit Krishna veralbern, weil er auf vielen Bildnissen auch auf einem Bein stehend musiziert. Aber diese Darstellungen kommen in vielen Kulturen vor.

Auf der Bühne wirken Sie wie eine Mischung aus mittelalterlichem Hofnarr, Bänkelsänger, Gaukler und schottischem Gutsherr. Leben Sie ihre schauspielerische Ader aus?

Anderson Auf der Bühne bin ich ganz ich selbst. Ich spiele keinen anderen Typen, aber ich kann ein klein wenig davon abweichen, wenn ich etwas schauspielere. Dennoch bleibe ich ganz ich selbst. Ein wirklich guter Schauspieler muss in der Lage sein, verschiedene Persönlichkeiten zum Leben zu erwecken. Andrew Lincoln zum Beispiel spielt in der Serie „The Walking Dead“ mit und killt 20 bis 30 Zombies in jeder Folge, ziemlich gewalttätiges Zeug …

Ihr Sohn Andrew Lincoln?

Anderson Er ist mein Schwiegersohn. Andy ist kein aggressiver Typ. Im Gegenteil. Aber sein Job ist es, einen gewalttätigen Mann zu spielen. Schauspieler schauspielern eben, ich nicht. Ich versuche nur, eine theatralische Welt zu erschaffen, in der ich die Charaktere meiner Songs darstelle.

Eine der interessantesten Figuren aus Ihren Stücken ist Gerald Bostock, dieser kleine geniale Junge aus „Thick As A Bick“. Dieses Konzeptalbum von 1972 und der Nachfolger, den Sie im vergangenen Jahr herausgebracht haben, stehen im Mittelpunkt Ihrer aktuellen Tour. Der Stoff scheint Ihnen sehr wichtig zu sein. Warum?

Anderson Gerald Bostock ist eine Metapher, die für uns alle steht, für gewisse Werte. Es geht um diesen acht-, neunjährigen Jungen, der gegen seine Elterngeneration aufbegehrt und ein wenig durcheinander ist. Er hat seine kindlichen Vorstellungen über Charakter, Krieg, Geschichte und Politik. Auf dem neuen Album habe ich einmal durchgespielt, was aus diesem Jungen als Erwachsener geworden wäre. Wissen Sie, wenn sie heranwachsen, dann müssen Sie Entscheidungen treffen. Entweder schwimmen Sie mit dem Strom, oder Sie machen es sich schwerer. Und ich wollte diese Möglichkeiten aufzeigen, die einen Lebensweg verändern können. Es ist eine Metapher für das Leben.

Glauben Sie an das Schicksal?

Anderson Ich bin davon überzeugt, dass wir für unser Leben selbst verantwortlich sind. Klar, da ist eine Menge Glück im Spiel, manche würden es Schicksal nennen. Ich glaube aber nicht an Vorherbestimmung, wie es manche Religionen verkünden. Das ist mir zu einfach. Ich denke, man muss Verantwortung übernehmen, und das nicht nur für sich selbst, sondern auch unsere Mitmenschen, vor allem unsere Kinder.

Sind diese Alben auch ein wenig Selbstreflexion ?

Anderson Ein wenig schon, aber ich habe sie nicht autobiografisch geschrieben. Ich denke, 20 Prozent von allem, was ich schreibe, hat auch mit mir selbst zu tun. Und 40 Prozent hat mit Leuten zu tun, die ich kenne. 20 Prozent sind Wissen, und der Rest ist komplette Fiktion.

Ich muss Sie zum Schluss noch auf den Namen Jethro Tull ansprechen: Das war ein Pionier der Landwirtschaft, der 1674 bis 1741 gelebt hat. Wie kam es zu diesem Namen?

Anderson Die Idee hatte 1968 unser Agent. Wir hatten damals jede Woche einen anderen Namen, weil wir so schlecht waren, dass uns kein Club zweimal buchen wollte. Wir hatten dreimal im Marquee Club gespielt, und der Manager mochte unsere Musik absolut nicht. Beim vierten Mal war er begeistert, da hießen wir zufällig Jethro Tull – und der Name blieb. Auf den Namen kam unser Agent, weil er studierter Historiker war. Ich wusste nicht mal, dass das eine wirkliche historische Figur war.

Und ich hatte immer die Vermutung, Sie wären neidisch auf die Band Uriah Heep gewesen, die sich auch um diese Zeit formiert hat?

Anderson Nun, die Kollegen von Uriah Heep nahmen den Namen einer Romanfigur an, wir den einer echten Persönlichkeit aus der Geschichte, der nicht nur ein Pionier der Landwirtschaft war, sondern auch Literat. Na ja, es gibt peinlichere Bandnamen.