Von ihren Fans wird sie „Lady des Soul“ genannt. Sie selbst sieht sich einfach nur als jemand, der Rhythm ’n` Blues singt. „Das ist, was ich bin, Baby!“, sagt Bettye LaVette. Seit 54 Jahren steht sie auf der Bühne, heute, am 29. Januar 2016, wird sie 70 Jahre alt. Und am1. Mai kommt sie zum Jazzfest Bonn.
Von Cem Akalin
Der Applaus war von beiläufiger Höflichkeit. Nicht mehr. Als der Moderator des Abends bei der Preisverleihung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington, D.C. an jenem Samstagabend im Dezember 2008 die nächste Künstlerin ankündigte, sahen sich manche fragend an. Bettye wer? Dreieinhalb Minuten später stand das Publikum jubelnd vor der Bühne. Bettye LaVette hatte mit ihrer Version des Who-Stückes „Love Reign O’er Me“ wirklich jeden umgehauen. „Ich musste die Leute umhauen, Baby! Das war in den letzten 50 Jahren die größte Chance, die ich hatte“, erzählt LaVette und gibt ein lautes raues Lachen von sich. Seitdem geht es nur noch aufwärts für die Sängerin, die am 29. Januar ihren 70. Geburtstag feiert.
Es war ein beeindruckender Auftritt, den LaVette da hinlegte. Sie startete das Stück wie jemand, der sich selbst wegen seines Kummers verspottete, doch dann kam ein solcher Ausbruch, ein solcher Ausdruck von Schmerz, dass Roger Daltrey, auf den die Fernsehkamera zwischendurch schwenkte, fassungslos ergriffen auf die Bühne blickte. Er sah aus wie einer, der nicht glauben konnte, dass er ein solch gutes Stück geschrieben hat. LaVette lacht. „Barbra Streisand saß ja neben ihm. Sie drehte sich zu ihm um und sagte zu ihm: Hast du tatsächlich diesen Song geschrieben? Pete Townshend erzählte es mir hinterher und sagte, das sei das größte Kompliment für ihn gewesen.“ Ihr Part beim Kennedy-Preis war eine musikalische Verbeugung vor Roger Daltrey und Pete Townshend von The Who, die neben dem Schauspieler Morgan Freeman, dem Countrysänger George Jones, Barbra Streisand und der Ballettmeisterin und Choreografin Twyla Tharp für ihre „außergewöhnlichen Beiträge zur amerikanischen Kultur mit ihrem Lebenswerk durch ihre dargestellten Künste“ geehrt wurden.
„Niemand kannte mich“, erinnert sich LaVette. „Im Publikum saß nur ein Mensch, der mich wirklich kannte. Das war Aretha Franklin.“ Sie selbst kannte zwar The Who. Aber der Song sagte ihr gar nichts. Vielleicht ist das ihr Geheimnis. Sie kennt keine Ehrfurcht. Respekt schon. Aber sie hat eine ganz eigenständige Art, an Songs heranzugehen.
2010 brachte sie ein Album mit dem Titel “Interpretations: The British Rock Songbook“ heraus, darunter eine unfassbare Rhythm ’n‘ Blues-Version von Pink Floyds „Wish You were here“. Es ist, als würde sie die Stücke bis zum Grundgefühl des Songs sezieren und dieses Gefühl dann in sich absorbieren. „Es ist doch nur ein Song, Honey!“, wiegelt sie ab. „Ich höre mir diese Stücke auf der Platte an. Die meisten kenne ich gar nicht, weil diese Musik normalerweise auf schwarzen Radiosendern nicht läuft! Mein Mann Kevin Kiley ist ja Ire. Er spielt mir diese ganze Musik vor, Songs, die für ihn sowas wie Hymnen sind.“ Sie gehe eben professionell als Sängerin an die Stücke. „Deshalb schüchtern sie mich nicht ein“, sagt sie schmunzelnd.
Ihre Version von Moody Blues „Nights in White Satin“ über die unerwiderte, ferne Liebe geht unter die Haut. LaVettes Mann meint, den Song habe er erst in ihrer Version richtig verstanden. „Das schmeichelt mir ungeheuer“, sagt LaVette zufrieden. Wer bei „I Do Not Want What I Haven’t Got“, im Original von Sinead O‘Connor, nicht den Atem anhält, wer da keine Gänsehaut bekommt, kann keine Gefühle haben. LaVette hat es auf ihrem Album „I’ve Got My Own Hell To Raise“ (2005) a cappella, also ohne Instrumentalbegleitung, aufgenommen. Ist der Albumtitel so etwas wie ein Bekenntnis? LaVette: „Was heißt „Bekenntnis“? Ich meinte das so. Man hatte doch so lange nichts mehr von mir gehört!“
LaVette spricht gern von ihrer „fünften Karriere“, in der sie sich befinde. Tatsächlich ist ihre 54-jährige berufliche Laufbahn gespickt von Ups und Downs. Irgendwie seltsam, dass diese großartige Sängerin, die in den 60er und 70er Jahren sogar so manchen Hit in den Charts hatte, dann doch irgendwie unbekannt blieb. „Ich kannte jeden meiner Fans per Namen und hatte von jedem seine Telefonnummer.“ Ihr Kichern klingt bitter. „Weißt du, Baby, ich hatte einfach niemals irgendwelche Leute, die mich gefördert haben. Jeder Erfolg, den ich hatte, verdanke ich meiner eigenen Leistung.“
Den Auftritt im Kennedycenter verdankte sie einem der Organisatoren, der Betty LaVette kurz zuvor in der Tonight Show im Fernsehen gesehen hatte. Und auch ihr Duett mit Jon Bon Jovi bei der Amtseinführung von Präsident Obama kam zustande, weil einer im Weißen Haus sie bei der Kennedy-Preisverleihung erlebt hatte. LaVette, die immerhin mal mit „Let Me Down Easy“ in den 60er Jahren einen ziemlich bekannten Hit landete kannte einfach niemand. Selbst Zeitungen und Magazine wie The New Yorker fragten sich hinterher: „Who the Hell Is Bettye LaVette?” Michael Stevens, einer der Produzenten der Show, fragte sich: „Wieso kennt kein Mensch diese Frau?“ Na, ja, die Hardcore-Szene kannte sie schon. Leute wie der Gitarrist und Produzent Ry Cooder. Er hat eine Erklärung: „Am Ende der Soul-Ära geriet sie irgendwie in Vergessenheit, und sie war wohl zu wild für den weißen Mainstreamgeschmack – aber sie war und ist die größte Soulsängerin.“
Dabei fing es für die damals 16-Jährige recht vielversprechend an. „Alle gingen damals zu irgendwelchem Vorsingen. Mich hatte einer bei einem Konzert gehört. Ich nahm meine Platte an einem Freitag auf. Am Freitag drauf erschien sie bereits, und noch am Wochenende kaufte mich Atlantic!“, erzählt sie.
Atlantic Records. 1947 von musikbegeisterten Söhnen des damaligen türkischen Botschafters gegründet, entwickelte sich unter der Führung des charismatischen Ahmet Ertegün zu einem der erfolgreichsten unabhängigen Plattenlabel seiner Zeit. Ursprünglich konzentrierte sich Atlantic vor allem auf Rhythm-and-Blues, Doo-Wop und Soul, später kam der Rock hinzu. Zu den größten Entdeckungen Ertegüns zählte etwa die Rockband Led Zeppelin. Zuvor indes prägte die Plattenfirma vor allem die schwarze Musik der 50er und 60er Jahre mit Künstlern wie Stick McGhee, Ruth Brown, die Drifters oder Ray Charles – und ab 1962 Bettye LaVette.
Eigentlich heißt sie ja Betty Jo Haskins. Als sie mit 16 Jahren ins Showbusiness einstieg, habe sie einen Namen haben wollen, der etwas „dramatischer“ klingt. „In meiner Gegend gab es ein Groupie, das Sherma Lavett hieß. Der Name gefiel mir. Seitdem nenne ich mich Bettye LaVette.“ Geboren wurde sie am 29. Januar 1946 in Muskegon, Michigan, wuchs aber in Detroit auf. Heute lebt sie mit ihrem Mann Kevin Kiley in West Orange, New Jersey.
Bettye LaVettes Karriere hat für ein junges afroamerikanisches Mädchen von damals ziemlich untypisch begonnen. Die meisten starten ihre ersten musikalischen Schritte in der Kirche im Gospelchor. Bettye LaVette nicht. „Meine Eltern verkauften Schnaps – und sonntags morgens hatten sie meistens einen Kater. Da war nichts mit Kirche.“ Sie lacht wieder.
Die Musikbox war ihre Lehrerin, ihr musikalischer Draht in die schöpferische Welt, aber auch die Plattensammlung ihrer großen Schwester. „Meine Familie verkaufte Sandwiches mit Grillfleisch und Hühnchen und schenkte Mais-Schnaps aus. Die Leute kamen in unser Haus, sie aßen, sie tranken. Es gab keine Glücksspiele. Aber in unserem Wohnzimmer stand eine Jukebox. Du konntest einen Nickel reinwerfen und Musik hören“, erzählt sie. In der Jukebox waren alle aktuellen Songs vereint. Sie wuchs mit der Musik von B. B. King, The „5“ Royales oder Dinah Washington auf. Der Vater hörte Gospels und viel Blues, die Mutter liebte Country- und Westernmusik. „Damals wusste ich nicht, dass das alles unterschiedliche Genres waren. Für mich war es einfach Musik!“ Und so ist es bis heute. Wenn sie einen Song hört, dann will sie die Empfindung, die Botschaft des Liedes nachvollziehen.
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Was Atlantic damals so faszinierte, war dieser ungeschliffene, fast ungehörige Sound in der Stimme dieser jungen Frau, eine Stimme irgendwo im Koordinatensystem einer Janis Joplin und Tina Turner. Kraftvoll, herausfordernd, sehr weit entfernt von jenem süßlichen Timbre, das damals eher gefragt war. Ein Teenager, der Songs wie „My Man—He’s a Lovin‘ Man“ und „ He Made a Woman Out of Me” sang, ging im prüden Amerika der frühen 1960er Jahre eigentlich gar nicht. “Oh, ja! Ich denke, ich klang damals ziemlich verwirrend. Ich hatte schon mit 14 Jahren die größten Brüste in der Schule! Wenn heute ein 14-jähriges Mädchen große Brüste hat und so klingt wie ich, dann wäre sie perfekt. Aber vor 50 Jahren…! Ich wollte klingen wie Doris Day, nicht wie Louis Armstrong.“ Wieder dieses raue, heisere Lachen! Als junges Mädchen, erinnert sie sich, habe sie mal an einer Talent Show an ihrer katholischen Schule teilgenommen. Als sie die Zeilen sang „I’m a hog for you, baby, can’t get enough of your love“ (Ich bin versaut für dich, Baby, und krieg nicht genug von dir), dauerte es nicht lange, als Mutter Ernesta aufstand und dem ganzen ein Ende bereitete.
Songs wie dieses gehörten später zu ihrem Repertoire. Sie wurden einem afroamerikanischen Mädchen in der Öffentlichkeit ja noch abgenommen, aber als wenig später Bobbie Gentry “He Made a Woman Out of Me” sang, war das fast ein Skandal! Heute noch ist so viel Kraft in ihrer Stimme, aber auch Trauer. Da ist manchmal ein Flehen, ja, etwas wie ein Gebet in Ihrer Stimme: eine Mischung aus Forderung und Bitten, aber trotz einer gewissen Verzweiflung überwiegt immer das Selbstbewusstsein einer stolzen Frau. Es ist die Stimme einer Frau, die viel erlebt hat. „Absolut richtig“, sagt Betty LaVette laut lachend. „Honey, ich werde 70 Jahre alt!
INFO
Am Sonntag, 1. Mai 2916, ist Betty LaVette in Bonn zu hören. Im Rahmen des Jazzfest Bonn tritt sie ab 19 Uhr in der Aula der Universität Bonn, Regina-Pacis-Weg, auf. Karten gibt es in den BonnTicket-Shops der GA-Geschäftsstellen oder www.bonnticket.de