Die Kraft der Bilder. Wie manipulativ sind sie? Was lösen sie aus? Was geschieht, wenn sie eine Flut von elektrischen Impulsen auslösen, die Milliarden von Nervenzellen in unseren Gehirnen aussenden? Steven Wilson geht diesen philosophischen und psychologischen Fragen auf seine Weise nach. Mit Musik, die so abwechslungsreich und mannigfaltig ist wie die Flut von Emotionen, die Bilder in uns auslösen können. Die 51-Jährige britische Progressive-Rock-Ikone hat am Samstagabend in der ausverkauften Bochumer Kongresshalle ein sensationelles Konzert gegeben, das keine Wünsche offenließ. Fehlte was? Vielleicht die indische Tanzgruppe bei „Permanating“, die er noch in der Royal Albert Hall dabei hatte…
Von Dylan Cem Akalin
London bei Regen, nachts an der Themse, reflektierende Lichter auf nassem Asphalt. Der Mensch als zappelnde Maschine. Der gedankenverlorene Tanz einer schönen Frau. Die Eizelle als ferner Stern. Stachelrochen im Flug zum Orionnebel. Wenn Bilder der Verführung und Demagogie dienen, dann ist Steven Wilson ein Meister unter den Manipulatoren. Zu seiner Musik laufen endlose Bilder, Filmsequenzen und Farbspiele über die Leinwand hinter der Band und manchmal auch auf einem transparenten Vorhang, der hin und wieder vor der Bühne zugezogen wird, so dass die Band manchmal wie Marionetten in einem großen Spiel wirkt. Es sind Bilder und Klänge, die zwischen Pet Shop Boys und Kraftwerk liegen, zwischen Genesis und Led Zeppelin (vor allem in der orchestralen Schlussfrequenz des Porcupine Tree-Songs „Sleep Together“), zwischen King Crimson und Emerson, Lake & Palmer. Seine Gitarre klingt auch mal wie David Gilmores Fender, die Rhythmen so synthetisch wie in manchen Phil Collins-Stücken.
Barfuß wie immer
Wer zu einem Steven Wilson Konzert geht, der muss sich darauf einstellen, dass er in einen musikalischen Strudel aus melodiöser Wachsamkeit, komplexen Strukturen, psychedelischen Ungereimtheiten, Soundgebirgen und genreübergreifenden Attacken gerät.
Barfuß wie immer betritt er pünktlich wie ein englischer Privatlehrer die Bühne. Heute ohne Message. Der Schriftzug auf dem T-Shirt ist überklebt. Mit „Nowhere Now“ und „Pariah“ beginnt er das Konzert mit melodiebetonten Songs. Das Set besteht überwiegend aus seinem jüngsten Album „To the Bone“, eines seiner erfolgreichsten Alben, auf dem sich der Multiinstrumentalist, begnadete Producer und dem Indie und Pop zuwendete und sich von der Musik der 80er Jahre, etwa von von Peter Gabriel, Kate Bush oder Talk Talk inspirieren ließ.
Zeit zu Tanzen
Und es ist Samstagabend. „Zeit zu Tanzen“, meint Wilson, der überhaupt äußerst gut gelaunt ist. „Permanating“, ein Song, in dem Wilson Abba, Daft Punk, die Beatles und die Pet Shp Boys zu einer Musik purer Lebensfreude verschmilzt. „Ich orientiere mich eher am glorreichen Pop der Siebziger Jahre, nicht am farblosen Pop von heute“, hat er mal gesagt.
Hinter der Musik von Wilson mag man einen introvertierten, intellektuellen Stubenhocker vermuten, der den ganzen Tag in seinem Labor nach neuen Sounds forscht. Das tut er sicherlich auch. Aber Wilson ist ein humorvoller Kerl von alterslosem Aussehen und dem Drang, gefühlvolle Musik mit Tiefgang zu machen. Sehr lustig, wie er von der Japan-Tour erzählte, wo das Publikum offenkundig das ganze Konzert durch klatscht. „Aber völlig aus dem Takt“, sagt Wilson lachend. „Eine echte Herausforderung für unseren Drummer Craig Blundell.“ Und schon steht er in einer rhythmisch vertrackten Passage vor dem Schlagzeuger, klatscht total konfus in die Hände und lacht sich kaputt.
Fantastische Band
Wir haben Spaß. Und jede Menge Gänsehaut am Körper. Die Band ist der Wahnsinn: Nick Beggs mit seinem langen silbergrauen Haar an Bass oder Chapman Stick sorgt für fette Betonungen. Adam Holzman ist sowohl am Piano als auch an den diversen Keyboards ein wahrer Künstler mit Sinn für Klänge und Ausdruck. Wie er von jazzigen Strukturen ins rockige Vokabular wechselt („zum Beispiel bei „Vermillioncore“), wie er mal breite Blockakkorde zu kräftigen Gitarrenriffs spielt, wie schwalbenleicht er solistische Glanzpunkte setzt, ist ein einziger Genuss. Und Gitarrist Alex Hutchings hat nicht nur einen Sound zum Niederknien, der Mann hat bei all der technischen Finesse ein sagenhaftes Gefühl in den Finger. Kein Wunder, dass Wilson sich vor ihm tief verbeugt.
„Ancestral“ kommt an diesem Abend härter und dunkler rüber, als es im Sommer auf dem Bonner KunstRasen klang. Das Opus ist von seiner Grundstimmung ja schon eher dunkel und eindringlich und hat einen eher einen Aufbau wie eine klassische Symphonie. In manchen Szenen mag man an Schubert (hört mal in die Symphonie Nr. 1 oder 6.!) denken mit der metallischen Kraft von Dream Theater – so absurd es sich vielleicht anhört.
Verrückte Gitarrenläufe
„No Twilight Within the Courts of the Sun“ ist der erste Song nach der Pause und der verstörenden, elektronischen Dauerberieselung vom Band (Bass Communion war ein Nebenprojekt von Wilson). Dazu der Blick aus den Sprossenfenstern auf eine Seelandschaft, bis sich plötzlich eine dunkle Person nähert – und die Band auf der Bühne steht. Das Stück wird zunächst getragen von einem stoischen Bassthema und verrückten Hendrix’schen Gitarrenläufen auf einer dunkelblau beleuchteten Bühne.
„Song of I“ hat was von einem tanzbaren Post-Punk-Depeche-Mode-Song. „Lazarus“ mit den Super-8-Szenen einer Kleinfamilie von früher ist immer noch schön anzuhören. „Detonation“ hat was von einem fremdartigen Spat-Genensis-Werk. „Song of Unborn“ gehört zu meinen Lieblingsstücken auf „To The Bone“. Schön und melancholisch. „Vermillioncore“ hat diese eindringliche Basslinie und harten Trommeln, die Gitarren klingen, als würden sie aus der Ferne wehen. Wie gesagt: „Sleep Together“ bildete einen fulminanten Schluss des regulären Sets.
Vier Zugaben
Vier Stücke gab es zur Zugabe: „Blackfield“ und „Sentimental“ in wunderschönen Akustik-Versionen, lediglich mit Akustikgitarre und Piano als Begleitung. Und schließlich „The Sound of Muzak“ und das wunderbare „The Raven That Refused to Sing“ vom gleichnamigen Album. Nach drei Stunden war Schluss.
Ich weiß nicht, ob die Wissenschaft geklärt hat, wie diese Flut von Bildern und wunderbarer Musik die Nervenzellen in unseren Gehirnen stimulieren und wie diese Glücksgefühle produzieren. Steven Wilson hat jedenfalls Wogen von Glück erzeugt.