Es ist einfach so. Wenn Metallica etwas Neues herausbringt, dann spaltet es die Kritiker- wie die Fanszene. „Eher solide statt spektakulär“, sei das Album „72 Seasons“ schreibt der Londoner Guardian. James Hetfields abenteuerliche Texte passten nicht zum Tempo eines 77-minütigen Albums, das auf „Tuckermodus“ eingestellt sei. Für den Spiegel wird da lediglich eine „enervierende Monotonie“ zelebriert: „Der inspirierende Wert dieser endlosen Tracht Prügel bleibt gering.“ Dass die Radikal-Fraktion, die eh nichts anderes durchgehen lassen als „Kill ‘Em All“, „Ride The Lighning“, „Master Of Puppets“ und „…And Justice For All“ wieder zu meckern hat, ist so klar wie zum Donner auch Blitze gehören. Nachdem sie ihre Fans schon mit „Hardwired… To Self-Destruct“ polarisierten, kommen Metallica nun mit ihrem ersten Studioalbum seit 2016 raus. „72 Seasons“ ist ihr elftes Studioalbum.
Von Dylan C. Akalin
Wie ist das Album „72 Seansons“ denn nun? Natürlich revolutionieren die vier Metallica-Veteranen nicht mehr den Heavy Rock. Müssen sie auch nicht. Die vier Schwarz-Weiß-Porträts von James Hetfield, Kirk Hammett, Lars Ulrich und Rob Trujillo, alle um die 60, zeigen sie ungeschminkt. Sie sehen aus wie müde Krieger, die genug haben vom Kampf gegen die Gewalten, aber immer noch bereit sind, zuzuschlagen, wenn’s nötig ist.
Als die vier merkwürdigen, langhaarigen Typen aus Kalifornien 1983 mitten in der rohen Punk- und glattgebügelten Pop-Welle ein brachiales Debütalbum rausbrachten, hatten sie eigentlich den Titel „Metal Up Your Ass“ bestimmt. Doch die Plattenforma meinte „Kill ‘Em All“ wäre wohl besser zu vermarkten. Ich habe die Jungs die letzten Jahre live beobachtet. Wer zu Metallica geht, bekommt immer noch den Arsch voll Metal. So einfach ist’s. Und auch das neue Album „72 Seasons“ ist Metallica pur. Das ist doch keine Frage. Diesmal ist keine Ballade drin. Kein „Nothing Else Matters“, dafür jede Menge harter Riffs, immer noch viel Zorn, kein hitverdächtiges Material, aber Songs, die im Stadion geschmettert werden können.
„72 Seasons“
Schon der Opener und der Titeltrack ist ein typischer Metallica-Song. Ein wespensummender Grundton, über den sich langsam ein Riff durchsetzt, und dann setzt der headbanging Rhythmus ein und der zornige Gesang von James Hetfield. Fast acht Minuten dauert „72 Seasons“, in dem es um den Zorn der Menschen geht: „Wrath of Man“. Und nach drei Minuten lässt Kirk Hammett erstmals ein kurzes Solo los. Der Gesang zu den hämmernden Gitarren und zum donnernden Bass liegt zwischen hymnischem Aufpeitschen und hartem Staccato. Der Song ist schnell, wild, fantastisch produziert. Ab Minute 5 lässt James Kirk von der Kette, und der Mann jagt über die Saiten, das Spiel landet dann schnell bei einem melodiösen Hook. Gibt es an dem Song was auszusetzen? Wüsste nicht, was.
Wie viele Songs auf diesem Album geht es um die inneren Dämonen. Die „72 Jahreszeiten“ bezeichnet Hetfield selbst als die ersten 18 Jahre unseres Lebens, „die unser wahres oder falsches Selbst formen“. Es ist die Phase, in der man geformt wird, in der man das Konzept der Eltern übernimmt oder hinterfragt, in der man auf der Suche nach dem ist, wer man ist. „Ein mögliches Schubladendenken darüber, was für eine Art von Persönlichkeit wir sind. Ich denke, der interessanteste Teil davon ist die kontinuierliche Untersuchung dieser Grundüberzeugungen und wie sie unsere heutige Wahrnehmung der Welt beeinflussen“, schreibt Hetfield zu diesem Stück. „Ein Großteil unserer Erfahrung als Erwachsener ist eine Nachstellung oder Reaktion auf diese Kindheitserfahrungen. Gefangene der Kindheit oder Befreiung von diesen Fesseln, die wir tragen.“ Es gehe um Traumatisierung und das Gefühl, von der Vergangenheit verfolgt zu werden.
„Crown of Barbed Wire“
Textlich hat Hetfield mal wieder in seinem Innersten gewühlt, er grübelt über Schmerzen der Seele und Teenagerangst, er ringt mit der Dunkelheit, beschwört die Dämonen der Selbstzerstörung („Crown of Barbed Wire“, „If Darkness Had A Son“), findet aber am Ende Spuren des Lichts und der Hoffnung (‚Lux Æterna“, „Chasing Light“). Dieser hämmernde Bass, die Tempowechsel, das erbarmungslose Schlagzeug, der leicht orientalische Unterton, der rotzige Gesangsstil bei „Crown Of Barbed Wire“ erinnert von der Stimmung sogar etwas an „Master Of Puppets“. Und wenn Hetfield im Chorus das „wire“ langzieht wie einen verhöhnenden Ruf und am Ende der athletische Bass mit den wuchtigen Bassdrums ins Gitarrensolo überleiten, müsste jeder Metallica-Fan glücklich sein. Hetfield drückt sich die Stacheldrahtkrone fest auf den Schädel. Der Song gehört zu den Highlights auf dem Album. Hammetts Soli sind übrigens erstaunlich oft von Blues-Pentatoniken geprägt und bilden mitunter einen wohltuenden Gegenpart zu den stahlbeton-abgebrühten Riffs von Hetfield. „Too Far Gone“ hat diese fausterhebende, Mitgröhlqualität. „Room of Mirrors“ überrascht mit einer Grundstimmung, die an die klassische Zeit des Hardrock erinnert, und einem zweistimmigen Leadgitarrenpart.
Das Album endet mit dem längsten Song, den Metallica je veröffentlicht hat, fühlt sich aber nie langweilig an. „Inamorata“, ein nachdenkliches elfminütiges Epos, in dem Hetfield seinem eigenen Elend die Liebe erklärt und das von einem herausragenden Gitarrensolo von Hammett gekrönt wird. Der Song entfaltet sich erst langsam mit breiigen, brummenden Riffs, während Hetfield singt: „Misery, she need me/Oh, but I need her more.“ Was dieses Stück melancholischer Abhandlung so hörenswert macht, ist die Authentizität, mit der Hetfield seine Agonie besingt.
Fazit: Das Album liegt immer wieder auf meinem Plattenteller.
Tracklist „72 Seasons“
01. „72 Seasons“ (7:39)
02. „Shadows Follow“ (6:12)
03. „Screaming Suicide“ (5:30)
04. „Sleepwalk My Life Away“ (6:56)
05. „You Must Burn!“ (7:03)
06. „Lux Aeterna“ (3:22)
07. „Crown of Barbed Wire“ (5:49)
08. „Chasing Light“ (6:45)
09. „If Darkness Had a Son“ (6:36)
10. „Too Far Gone?“ (4:34)
11. „Room of Mirrors“ (5:34)
12. „Inamorata“ (11:10)