
Von Dylan C. Akalin
Die Frage, die sich nach diesem Abend fast zwangsläufig stellt, ist nicht, ob Steven Wilson ein großartiger Musiker ist. Das steht außer Zweifel. Vielmehr ist es die Frage, ob das, was er auf die Bühne bringt, überhaupt noch als „Konzert“ im klassischen Sinne zu fassen ist. Oder ob wir es hier nicht vielmehr mit einem audiovisuellen Gesamtkunstwerk zu tun haben, das die Konventionen von Rock, Pop, Performance und digitaler Erzählform auflöst – und neu zusammensetzt. Und: Was muss im Kopf dieses genialen Musikers vorgehen, der neben dieser großartigen Musik solch großartige Bilder schafft?

Bisweilen wähnte ich mich in einer Mischung aus „Interstellar“ und „Koyaanisqatsi“. Mit der Performance seines aktuellen Albums „The Overview“ gewährte Steven Wilson Einblicke in sein Urkonzept, vielleicht sogar seine Grundphilosphie und die Auseinandersetzung mit Fragen nach Realitäten, Dimensionen und damit die Sinnfrage des Lebens. Wir erleben Kamerafahrten durch die Galaxie, durch das Innenleben der virtuellen Realität, die aus Nullen und Einsen besteht. Was ist Wahrheit, wenn sich alles miteinander vermischt? Eine Meditation über Vergänglichkeit inmitten digitaler Unsterblichkeit.
Steven Wilson gibt nicht einfach ein Konzert. Er hat ein Gedankenexperiment vertont, einen Riss in der Oberfläche des Realen aufgezeigt – ohne Pathos, ohne Pose, aber mit einer ästhetischen Konsequenz, die ihresgleichen sucht.
Seine Musik ist keine Zuflucht, sondern eine Reflexion über eine Welt, in der Mensch und Maschine längst nicht mehr zu trennen sind. Wer dabei war, verließ die Halle verändert – nachdenklicher, leiser, und vielleicht sogar ein bisschen ehrfürchtiger gegenüber dem, was Klang heute sein kann.
Klang gewordene Übersicht: Set 1 als Konzeptlabor
Schon der Einstieg war mehr als ungewöhnlich. Wo andere Acts einen Hit setzen würden, um das Publikum einzufangen, öffnete Wilson mit „The Overview“ – einem Track, der sich nicht ein-, sondern ausklinkt, der die Vogelperspektive einnimmt. Der Bass klingt live noch fetter, die Drums knallen heftiger, Gitarrist Randy McStine hat an diesem Abend ein paar mehr jazzige Klänge in sein Spiel. Als wir erst durch eine Lava-Landschaft, dann durch Wälder fliegen, die Drums immer leiser werden, Wilsons Gitarre in hellen Blitzen endet, übernimmt McStine erneut, führt uns durch sein abstraktes Musikverständnis, während alle Materie auf der Leinwand von einem Schwarzen Loch aufgesogen wird und wir in einem LSD-Trip in Rosa landen.

Wahnsinn wie ruhig ein Rockpublikum sein kann, wenn der ruhige Gesang Wilsons ihn in den Bann zieht: „And then I asked You/“Did You Forget I Exist?“ McStines Gitarre schreit, als würde der Sound rückwärts durch ein enges Wurmloch gequält, der Klang wird breiter während wir sehen, wie ein Alienwesen mit drei Fingern in Fötushaltung uns entgegenschwebt
„The Overview“
Fast schon kühl, wissenschaftlich wirkt im zweiten Teil von „The Overview“ die Musik, durchzogen von elektronischen Dissonanzen und melodischen Andeutungen, die sich nicht in Hooklines, sondern in atmosphärischen Rastern manifestieren. Die beiden Stücke flossen ineinander, mit „The Overview“ als Reprise – ein dramaturgischer Bogen wie ein Blick in die Unendlichkeit, der sich am Anfang und Ende des ersten Sets schließt. Hier geht es vielleicht noch stärker um das Bewusstsein, wie klein wir in diesen unvorstellbaren Dimensionen des Universums sind.
Die zweite Hälfte: Dichte, Drama und Dekonstruktion
Was für ein Sound an diesem Abend wieder mal! Es ist eine neue Hörerfahrung, ein neues Entdecken, selbst wenn man die Songs schon so oft gehört hat. Aber Steven Wilson ist ja auch ein Tüftler unter den Musikern. Er scheint seinen eigenen Stücken selbst immer wieder etwas Neues zu entnehmen.
„The Harmony Codex“ klingt wie ein zerbrechlicher Algorithmus, der versucht, Menschliches zu verstehen. Es ist Musik, die sich nicht aus Songstrukturen speist, sondern aus Strömen, Fragmenten, aus Impulsen, die sich manchmal wie Fehler anfühlten – absichtlich gesetzte Irritationen in einem hochästhetisierten System.
„King Ghost“
„King Ghost“ ist eine Offenbarung. Der Raum wurde zu einem digital schimmernden Aquarium, in dem Wilsons Stimme wie aus einem anderen Medium zu kommen scheint – gläsern, entrückt, beinahe körperlos. Die Videoprojektionen verstärken diese Wirkung: Avatare, Silhouetten, sich auflösende Gesichter. Eine Figur, entstanden aus digitalem Lehm, im Dunkel. Es ist nicht mehr klar, wer hier eigentlich spricht – der Künstler oder ein Abbild von ihm. Der Bass ist hier einfach gewaltig, und Keyboarder Adam Holzman spielt ein fantastisch, sehr jazziges Pianosolo.

Dann kommt mit „Luminol“ der Kontrast, der Aufschrei. Schlagzeuger Craig Blundell explodiert förmlich hinter seinem Set, seine Takte messerscharf, mechanisch präzise und doch voller organischer Wucht. Es ist, als wäre plötzlich ein anderer Konzertmodus eingeschaltet worden – der des klassischen Progressive Rock, nun allerdings mit der Wucht digitaler Präzision und jazziger Volten. Bassist Nick Beggs legt dazu ein Fundament aus Tiefe und Funk, sein Spiel am Chapman Stick ist raumgreifend, aber nie effekthascherisch. Sein gesamter Habitus – zwischen britischer Exzentrik und stoischer Meisterschaft – verleiht der Band eine körperliche Präsenz, die in starkem Kontrast zur entrückten Musik stand. Als McStine sein Solo spielt, stellt sich Wilson anerkennend vor ihn und beobachtet sein Spiel.
Porcupine-Tree-Relikt „Dislocated Day“
„What Life Brings“, „No Part of Me“ und das Porcupine-Tree-Relikt „Dislocated Day“ führen das Publikum durch eine Art Zwischenwelt: nicht balladesk, aber doch getragen, manchmal fast poppig – allerdings mit zersplittertem Spiegelbild. Die Harmonien sind nie ganz heil, immer lauert ein dissonanter oder entrückter Schatten. Ach ja, bei „Dislocated Day“ fällt für einen Moment der Saft auf der Bühne aus, die Band spielt ungerührt weiter. Hier brilliert SW mit einem wah-wah-verzerrtem Gitarrensolo unter gleißendem Scheinwerferkegel.

„Harmony Korine“ und „Impossible Tightrope“ bilden das Zentrum des zweiten Sets – letzteres als Höhepunkt einer musikalischen Gratwanderung. Die Musiker brillieren in jazzartig freien Passagen, dann wieder in strikt rhythmisierten Abschnitten. Keyboarder Adam Holzman erweist sich hier als Architekt des Abgründigen: seine modulierten Synth-Kaskaden, plötzlichen Dissonanzen und flirrenden Flächen wirken wie Störungen im System – gewollt, gezielt gesetzt, meisterhaft ausgeführt.
Randy McStine kann man gar nicht oft genug loben, er fügt sich in dieses Gefüge nicht nur technisch einwandfrei, sondern mit einem feinen Gespür für Klangfarben. Seine Soli sind nie Selbstzweck, sondern organische Erweiterungen von Wilsons Ideen – mal kantig, mal schwebend, aber immer mit emotionalem Nachdruck.
„Vermillioncore“ schließlich ist ein Ausbruch aus allem: eine brutale, pulsierende Noise-Etüde mit dystopischem Einschlag, die das Set mit einer Mischung aus Nervosität und Katharsis beschließt.
Der Zugabenblock: Menschlichkeit im digitalen Nebel
Als Zugabe folgt „Pariah“, Wilsons Duett mit der israelischen Sängerin Ninet Tayeb, die hier in Form eines Videoclips anwesend war. Ihre Stimme, eingeblendet aus der Projektion, mischte sich mit Wilsons Live-Gesang zu einer beinahe unheimlich realen Einheit – ein Duett zwischen Mensch und Maschine, Erinnerung und Abbild.
„Ancestral“ als Abschluss ist überwältigend. Der Song bündelte all das, was Wilsons Werk ausmacht: Trauer, Größe, Struktur, Auflösung. Es ist ein musikalischer Sturm, der alles mitreißt, was an innerer Distanz bis dahin noch verblieben war.
Die visuelle Gestaltung: Zwischen Kunstfilm und Überwachungsbild
Die Show ist visuell nicht nur hochwertig, sondern konzeptionell durchdacht. Keine zufälligen Animationen, keine visuellen Posen – vielmehr ein szenisches Gesamtkonzept, das auf Reduktion, Intelligenz und Wirkung setzte. Monochrome Farbpaletten, asynchrone Gesichter, Aufnahmen von Menschen in scheinbar leeren Räumen, Überblendungen zwischen realen und künstlichen Landschaften – all das wirkt wie ein Mix aus Andrei Arsenjewitsch Tarkowski, den eben erwähnten Godfrey Reggio und einer neuronalen KI mit melancholischer Neigung.

Die Musiker treten oft nur als Schattenrisse vor dieser Projektionen in Erscheinung – bewusst deindividualisiert, fast entrückt. So entsteht eine paradox intime Anonymität, ein Spiel mit Nähe und Distanz, mit Präsenz und Projektion. Einfach fantastisch.
Steven Wilson verlangt eben viel. Von sich, von seinen Musikern, vom Publikum. Er unterhält nicht im klassischen Sinn, er verführt nicht, er betäubt nicht. Vielmehr führt er uns hinein in eine Welt, die unsere eigene ist – nur sezierter, fragmentierter, reflektierter.








