Wir wollen Euch jeden Tag ein Adventstürchen öffnen, mit der Hoffnung, Euch die eine oder andere Eingebung zu geben, was ihr verschenken oder was ihr Euch selbst zum Geschenk machen könnt. Unter unseren Empfehlungen sind brandneue Veröffentlichungen, aber auch einige, die etwas zurückliegen, aber es wert sind, nochmal ins Gedächtnis geholt zu werden. Wir geben Tipps für Konzerte, Bücher, Platten – alles rund um Musik. Hinter unserem elften Adventstürchen steckt:
John Coltrane 1963: New Directions
Coltrane’s complete recordings from 1963
als 3-CD-Set oder 5-LP vinyl box set
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Von Dylan Cem Akalin
Viele Jazz-Historiker haben das Jahr 1963 lange Zeit als ein entscheidendes Jahr in der Geschichte des Genres bezeichnet, nicht zuletzt dank der einzigartigen Beiträge von John Coltrane in jenem Jahr. Jazz-Fans waren dann im Sommer auch verblüfft, als ein verloren geglaubtes Coltrane-Artefakt mit dem Titel „Both Directions at Once“ auftauchte.
Die bislang unveröffentlichten Aufnahmen zeigen, dass der Saxophonist völlig neue Jazzgebiete erforschte. Diese Session wurde mehr als 50 Jahre lang nicht veröffentlicht, und doch brachte Coltrane 1963 beeindruckende vier Alben auf Impulse! heraus, darunter ein Live-Album, das im folgenden Jahr bei Birdland erschien, und ein Set wurde in Newport aufgenommen, das posthum erschien. Impuls! Bringt nun alle diese Aufnahmen zum ersten Mal in einer neuen Box mit dem Titel „1963: New Directions“ heraus – ein Schatz!
Zerfließende Erforschung
Die Sammlung besteht aus jedem Track, den John Coltrane damals auf Impulse veröffentlicht hat wird in der chronologischen Reihenfolge präsentiert, wie sie auch aufgenommen wurden. Dazu gehören neben dem Material aus dem Album „Both Directions At Once: Das verlorene Album“ die Aufnahmen „John Coltrane und Johnny Hartman“, „Dear Old Stockholm“, „Newport“ 63 und „Live at Birdland“.
Das Jahr 1963 markiert einen Übergangspunkt zwischen den bekannten früheren Meisterwerken Coltranes und seiner Entwicklung, die Grenzen der Musik immer weiter zu überschreiten. Die Aufnahmen zeigen tatsächlich Coltranes Bewegung in viele Richtungen: seinen Rückblick auf die Vergangenheit, die zerfließende Erforschung seiner bekannten Repertoires, die Erkundung traditioneller Formate und Ausblick auf Kompositionen und Herangehensweisen, die die Reichweite des Jazz weiter ausdehnen würden. Tatsächlich sind in vielen Soli schon seine Hinwendung zur freien Ausdrucksweise zu hören.
„Kind of Blue“
Egal in welche Richtung sich Coltrane bewegte, sein Sound blieb immer Coltrane. Es ist sowohl hinreißend als auch berührend, die Klänge des sanften Giganten des Jazz zu hören. Diese neu entdeckte Session aus dem Jahr 1963 fängt die Intensität von Coltranes großartigen Quartett ein und verweist auf die zukünftige Brillanz dieser Musiker, die am 6. März 1963 zusammenkamen: John Coltrane, Elvin Jones (Schlagzeug), McCoy Tyner (Klavier) und Jimmy Garrison am Bass.
1963 war in vielerlei Hinsicht ein entscheidendes Jahr für Coltrane, dessen Karriere bereits auf einem hohen Level verlief, nachdem er mit Miles das brillante „Kind of Blue“ und seine eigenen Alben „Giant Steps“ (1960) und „My Favorite Things“ (1961) gemacht hatte. Hinzu kam, dass die Alben wie „Ballads“ und „Duke Ellington und John Coltrane“ den Wunsch des Labels widerspiegelten, ihn enger am Mainstream zu halten.
Konzentrierter Blick
Das Erstaunliche an den Aufnahmen ist dieser konzentrierte Blick auf den Prozess, in dem sich Coltrane und seine Leute in jenem Jahr befunden haben – sprichwörtlich hin- und hergerissen in alle Richtungen gleichzeitig. Was für eine Dynamik muss da geherrscht, was für ein innerer Drang in seiner Brust gewütet haben, nach neuen Ausdrucksformen zu suchen!
Sie waren offenbar so miteinander im Reinen, so mitten im Strom des Musizierens, dass sie sich gleich eines Vogelschwarms immer wieder aufeinander einließen. Nach dieser dieser Session für „Both Directions“ machten sie sich auf den Weg in die letzte Nacht einer zweiwöchigen Konzertreihe im Birdland in New York, wo sie sich die Seele aus dem Leib spielten, waren am nächsten Tag wieder im selben Studio, um mit Sänger Johnny Hartman ein völlig anders gelagertes Album mit sehr straighten Jazznummern aufzunehmen. Der kreative Ausdruck der Band war sagenhaft. Der verdichtete Zeitplan dieser einen Woche zeigte, wie viel für Coltrane und damit auch für den Jazz generell zu dieser Zeit geschah.
Coltrane war ein Komet
Coltrane war ein Komet, dessen Umlaufbahn völlig unberechenbar war. Nach seiner Zusammenarbeit mit Miles Davis in den späten fünfziger Jahren nahm Coltrane mehrere Alben unter seinem eigenen Namen auf, doch er bis Ende 1961 hatte er noch kein endgültiges Line-Up für sein Quartett. „A Love Supreme“ wurde im Dezember 1964 aufgenommen. Sieben Monate später kam „Ascension“, eine schreiende Freiheitserklärung mit einem erweiterten Ensemble, das auch heute noch Ehrfurcht auslöst.
Die zweite CD wird mit dem 11-minütigen „Slow Blues“ eröffnet, ebenfalls am 6. März aufgenommen. Interessant sind die Aufnahmen des wunderschönen „After the Rain“ und „Dear Old Stockholm“, weil sie mit Schlagzeuger Roy Haynes entstanden. Er hatte Jones für drei Monate abgelöst, weil Jones gerade eine Entziehungskur von seiner Drogensucht machte. Haynes ist auch auf dem letzten Track dieser CD zu hören, einem Klassiker von Billy Eckstines „I Want to Talk About You“, das live beim Newport Jazz Festival aufgenommen worden war. Man hört da sehr deutlich die Unterschiede der Stile von Haynes und Jones.
Anfänge seiner spirituellen Seite
CD 3 beginnt mit zwei weiteren Live-Tracks des Newport Jazz Festival, einem 17-minütigen, feurigen „My Favorite Things“ mit Trane am Sopran und einer 15-minütigen Version von „Impressions“ auf Tenor. Letzteres zeigt, wie explosiv und aggressiv Trane seine Soli spielte im Vergleich zu seinem Spiel auf der CD 1. Es folgen drei Live-Tracks, ein umfangreicheres und entspanntes “I Want to Talk About You”, und Mongo Santamarias „Afro-Blue“. Die letzten beiden Tracks auf dieser CD erschienen auch bei „Live at Birdland“. Die November-Studioaufnahme „Your Lady“ ist seiner zukünftigen Frau Alice gewidmet, und das legendäre „Alabama“ weist schon auf die Anfänge seiner spirituellen Seite hin, der Song war für die vier afro-amerikanischen Mädchen geschrieben, die damals bei einer Bombardierung einer Kirche in Birmingham, Alabama, getötet wurden.
David Wild gibt im Begleitheft einige interessante Informationen zu „Alabama“, von dem es wohl fünf Takes gab. Take vier bricht ab, kurz nachdem Coltrane mit dem Solo zu spielen beginnt, und die fünfte Version beschränkt sich auf eine Aufnahme der Band ohne Solos. Ein Produktionsfehler führte dazu, dass eine kombinierte Version aus Take 4 und 5 veröffentlicht wurde.
Selbst wenn man einige dieser Aufnahmen schon im Plattenschrank haben sollte – man kann doch nie genug von John Coltrane haben, oder?
Disc: 1
1. Vilia (Take 3)
2. Vilia (Take 5)
3. Untitled Original 11383 (Take 1)
4. Nature Boy
5. Impressions (Take 1)
6. Impressions (Take 2)
7. Impressions (Take 3)
8. Impressions (Take 4)
9. Untitled Original 11386 (Take 1)
10. Untitled Original 11386 (Take 2)
11. Untitled Original 11386 (Take 5)
12. One Up, One Down (Take 1)
13. One Up, One Down (Take 6)
Disc: 2
1. Slow Blues
2. They Say It’s Wonderful – John Coltrane & Johnny Hartman
3. Lush Life – John Coltrane & Johnny Hartman
4. My One and Only Love – John Coltrane & Johnny Hartman
5. Autumn Serenade – John Coltrane & Johnny Hartman
6. Dedicated to You – John Coltrane & Johnny Hartman
7. You Are Too Beautiful – John Coltrane & Johnny Hartman
8. After the Rain
9. Dear Old Stockholm
10. I Want to Talk About You (Live at Newport Jazz Festival, July 7, 1963)
Disc: 3
1. My Favorite Things (Live at Newport Jazz Festival, July 7, 1963)
2. Impressions (Live at Newport Jazz Festival, July 7, 1963)
3. The Promise (Live at Birdland, NYC, October 8, 1963)
4. I Want to Talk About You (Live at Birdland, NYC, October 8, 1963)
5. Afro-Blue (Live at Birdland, NYC, October 8, 1963)
6. Your Lady
7. Alabama