Diese Jazzalben dürfen in keiner Sammlung fehlen

Diese Jazzalben gehören in jedes Regal eines Sammlers. Ich habe hier eine erste Auswahl getroffen von ganz besonderen Alben, die nicht nur als Weihnachtsgeschenk funktionieren. Es sind Alben für verträumte Philosophen, für intellektuelle Entdecker, für unverbesserliche Romantiker und Nostalgiker, für tanzerprobte Genießer, kurz: für Liebhaber guter Musik!

Von Dylan Cem Akalin

 

Wadada Leo Smith: America’s National Parks (Amazon)

Kunst als Erforschung des eigenen Inneren, der sich in einem musikalischen Ausdruck wiederfindet, der nur durch den Einsatz höchsten Risikos entsteht. Das ist der Ansatz des Trompeter und Komponisten Wadada Leo Smith. Bei einem Konzert in Köln bekannte der 75-jährige Jazzmusiker einmal: „Ich wage mich an den Abgrund.“ Auf seinem Doppelalbum „America’s National Parks“ begibt sich Wadada Leo Smith mit seinem Golden Quintet (Anthony Davis: Piano, Ashley Walters: Cello, John Lindberg: Bass, Pheeroan akLaff: Drums und Jesse Gilbert: video artist) auf eine musikalische Forschungsreise, die gleichsam dokumentarischen, sozialpolitischen als auch spirituellen Charakter hat. Die ungewöhnlichen Strukturen liegen zunächst nur scheinbar jenseits vertrauter Hörgewohnheiten. Wer sich darauf einlässt, erkennt schnell, dass Smith mit seinen sechs Suiten Musik geschaffen hat, die großartige Bilder im Kopf entstehen lässt.

Wadada Leo Smith ist ein Meister der Abstraktion. Keine Frage. Dennoch ist er auch ein Freund geradliniges Konzepte. Schon vor diesem Projekt widmete er sich thematischen Kompositionen, etwa „The Great Lakes Suites“ oder das umfangreiche Bürgerrechtsprojekt „Ten Freedom Summers“, bei denen er sich aus dem Vokabular des Avantgarde-Jazz als auch der Sprache der zeitgenössischen Klassik bediente. Für sein 2016er Album mit dem Pianisten Vijay Iyer schrieb Smith eine Hommage an den afroamerikanischen Altisten Marian Anderson.

Das Album beginnt mit „New Orleans, dem National Culture Park“: Eine sich wiederholende Basslinie, ein romantisches Cello und spirituelle Trompete, ein eigenwilliges Piano und ein wunderbar akzentuierendes Schlagzeug entführen ins musikalische Universum des Wadada Leo Smith. Der Puls gibt den Ton für weitere schöne Improvisationen von gedämpfter Trompete und Cello, voll von Dramatik und Leidenschaft, doch dann entwickelt sich die Musik zu einem zentralen Abschnitt von eifrigem Klavier und einem Solo-Bass, was ein seltsames Gefühl von Ruhe und Unsicherheit erzeugt, bis Cello und Piano eine gemeinsame Stimme finden – jedoch nur kurz. Das Piano verschwindet wieder, und Bass und Cello spielen in einem heftigen, rhythmuslosen Kampf, gefolgt von den Trommeln, die für ein intimes Gespräch mit dem Cello in den Vordergrund treten. Das Piano gibt eine Reihe kleine Töne von sich, dann taucht langsam wieder ein impressionistisches Thema auf, zerbrechlich und sensibel. Das ganze Stück ist ein wundervolles kontinuierliches Verschieben von Schichten von Klängen, wie eine Kamerafahrt über eine sich ständig verändernde Landschaft.

 

Ella Fitzgerald: Ella At Zardi’s (Amazon)

Verve Records und UMe beenden das Jubiläumsjahr zum 100. Geburtstag der Jazzlegende Ella Fitzgerald mit dem ultimativen Geschenk – einem Live-Album mit noch nie veröffentlichten Aufnahmen. Mehr als 60 Jahre nach der Aufnahme ist jetzt „Ella At Zardi’s“ auf CD und Digital veröffentlicht. Der Eröffnungstitel des Albums, „It All Depends on You“, ein Song, der durch die Interpretationen von Doris Day, Frank Sinatra und Nat King Cole populär wurde, wurde nie auf Fitzgeralds Alben veröffentlicht. Das macht es zu einer wirklich seltenen Publikation.

Aufgenommen am 2. Februar 1956 im Zardi’s Jazzland in Hollywood, zeigt Ella At Zardi’s eine höchst inspirierte Fitzgerald, die wieder einmal mit ihrem eleganten Gesang glänzt. Unterstützt wird sie von einem herausragenden Trio: Don Abney (Piano), Vernon Alley (Bass) und Schlagzeuger Frank Capp. Das Konzert wurde ursprünglich von Norman Granz aufgenommen, um die Entstehung von Fitzgerald zu feiern, und die Unterzeichnung bei Verve Records, die Granz gründete, um Fitzgerald die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie bei ihrem damaligen Label Decca nicht bekam. Ella At Zardi’s war als erste Veröffentlichung des Labels geplant, wurde aber zugunsten des mittlerweile klassischen Studioalbums Ella Fitzgeralds Sings The Cole Porter Song Book zurückgestellt, das eine Bestseller-Serie von Songbook-Veröffentlichungen startete.

 

Ella Fitzgerald with the London Symphony Orchestra (Amazon)

Ebenfalls neu erschienen: Ella Fitzgerald with the London Symphony Orchestra. Es ist ein sagenhaftes Projekt: Man hat Mono-Aufnahmen der 50er Jahre neu mit dem Londoner Symphony Orchestra eingespielt. „Wir haben bewusst die frühen Aufnahmen ausgewählt, die Ella für Decca und Verve gemacht hatte, weil uns Mono-Tracks besser ermöglichten, den Klang umzugestalten“, sagt die Produzentin Juliette Pochin. Und so hört man beim Opener „People Will Say We’re In Love“ ein ungewöhnliches Duett mit Gregory Porter. Das ganze Album ist ein Fest für die Sinne. Ein Muss für Ella-Fans.

Das Album präsentiert Ella Fitzgerald auf der Höhe ihrer Stimmgewalt. Wir hören die „First Lady of Song“ mit einer Auswahl von Songs aus dem Zeitraum von 1950 bis 1961, darunter „Misty“, „Bewitched“, „These Foolish Things (Remind Me Of You),“ „I Get A Kick Out of You,“ aus dem Cole Porter Songbook sowie zwei Duette mit Louis Armstrong.

Gregory Porter kommentierte Ellas Einfluss auf spätere Jazzsänger so: „Für mich ist Ellas Einfluss auf den aktuellen Stand des Jazz insofern von Bedeutung, als viele Sängerinnen und Sänger versuchen, die Klarheit und Schönheit ihres Klangs zu erreichen. Sie hatte diese reine, leichte Stimme, und doch konnte sie zurückstecken, konnte sich bei einem Song einfach loslassen und sich in eine Blues-Sängerin verwandeln.“

 

The Fred Hersch Trio: Sunday Night at the Vanguard (Amazon)

„A Cockeyed Optimist“ öffnet das Set und schleicht sich mit einer federleichten Improvisation an. John Hébert (Bass) findet sich exquisit ein. Sein Bass folgt Hersch bei der Melodiefindung. Das Spiel mag Bill Evans zugeneigt sein, aber Hersch lässt sich nicht an einen bestimmten Stil binden. Seine Komposition „Serpentine“  hat ein Ornette-Thema, das sich langsam über dahinjagende Becken entfaltet, bevor zuerst Hersch, dann Hébert das Trio durch impressionistische Erkundungen führen. „The Optimum Thing“, eine eher boppige, rhythmisch eckige Melodie über die Veränderungen von „The Best Thing for You“, bietet eine Plattform für einen Swing, der sich allmählich beschleunigt, bis das Thema in einem glühenden Tempo zurückkehrt. „Calligarms“ spärliches fragmentarisches Thema über einer erdigen Basslinie löst sich in eine kollektive Improvisation auf. Herschs Arrangement der Beatles „For No One“ ist eine herzzerreißende Ballade, die sich lyrisch voll entfaltet. „Everyone’s Song But My Own“ ist ein ausgelassenes Stück mit einem polyrhythmischen Antrieb, der das von Kenny Wheeler geschriebene melancholisch gefärbte Thema mit fröhlicher, fast feierlicher Atmosphäre durchzieht. Die CD endet mit Monks „We See“ und der Solozugabe von Herschs „Valentine“, ein weiteres Paradebeispiel für den Reichtum seines harmonischen Vokabulars. Fazit: Alle Sterne der Welt.

 

Henry Threadgill: Old Locks and Irregular Verbs (Amazon)

Henry Threadgills „Old Locks and Irregular Verbs“ ist eine Hommage an einen alten Freund, den Komponisten-Dirigenten Lawrence D. „Butch“ Morris, der 2013 verstorben ist. Er beschreibt die Arbeit als „eine Emotion, ein Gedanke, an den ich mich bei Butch erinnere“.  Morris schuf diese unverwechselbare Form der Dirigenten-geführten kollektiven Improvisation für große Ensemble, die auf einer Technik aufbaute, die er „Conduction“ nannte. Threadgill lernte ihn kennen als er Mitte der 1970er Jahre von Chicago nach New York zog. Sie waren später Mitglieder des David Murray Oktetts in den frühen 1980er Jahren, als Morris noch mehr als Kornettist bekannt war. Fast vier Jahrzehnte lang waren sie enge Freunde, sie lebten nahe beieinander im East Village und waren beide Kriegsveteranen aus dem Vietnamkrieg, aber vor allem waren sie musikalische Entdecker, die ihre eigenen kreativen Stimmen entwickeln wollten. „Old Locks“ wurde im Januar 2014 beim New Yorker Winter Jazz Fest in Auftrag gegeben, wo es zweimal vor einem begeisterten Publikum in der historischen Judson Memorial Church aufgeführt wurde. Gespielt werden die Stücke vom Ensemble Double Up, die erste Band von Threadgill: eine unorthodoxe instrumentale Kombination mit Jason Moran und David Virelles an Klavieren, Curtis MacDonald und Roman Filiu an Alt-Saxophonen, Jose Davila an der Tuba, Christopher Hoffman am Cello und Craig Weinrib am Schlagzeug. Threadgill, der natürlich auch als Saxofonist und Flötist bekannt ist, sagte, dass er immer eine Gruppe haben wollte, in der er nicht spielen müsste, damit er sich darauf konzentrieren könnte, die Musik zu komponieren und zu gestalten.

Und so ist es wohl mit diesem Ensemble. Die Arbeit eröffnet tatsächlich ein aufregendes neues Kapitel in der sich ständig weiterentwickelnden Kunst eines der interessantesten Komponisten der modernen Musik. Auch mit 72 Jahren drängt es Threadgill, künstlerisch immer weiter zu gehen. Nachdem er 15 Jahre lang mit seiner Band Zooid sein einzigartiges intervallbasiertes Improvisationssystem entwickelt hat, geht er mit Ensemble Double Up noch einen Schritt weiter. Er selbst beschreibt die neue Musik als „eine Erweiterung von Zooid. Das Intervall-Zeug ist bereits in die Komposition geschrieben, aber nicht so streng vorgeschrieben. Es basiert mehr auf den Ohren der Musiker, so dass es mehr Platz gibt, um sich zu bewegen.“

Die Verwendung von zwei Klavieren erweitert die harmonische und tonale Palette erheblich und fügt eine viel größere Auswahl an Farbe, Struktur und Gewicht hinzu. Seine Kompositionen haben an  polyphoner Dichte zugenommen, so dass überlebensgroße Klanglandschaft entstehen, in denen die Musiker weiter forschen können. Die Parts One bis Three sind ein weitgehend komponiertes, akribisch arrangiertes Werk: Sie sind geprägt durch komplexe Formen, vielschichtige Kontrapunkte und rhythmische Verschlungenheit. Virelles beschreibt es so: „Die Ensembleteile sind wie ein Irrgarten, die sehr präzise gespielt werden müssen, mit durchgängigen Phrasen, die eine ganz bestimmte rhythmische, harmonische und strukturelle Beziehung zwischen allen Elementen bewahren.“ Das Interessante ist, dass die beiden Pianisten in den Ensemble-Passagen meist Single-Noten spielen, was diesen Irrgarteneffekt zwar verstärkt, dem Ganzen aber dennoch einen harmonischen Rahmen gibt.

Bei Part Four weicht Threadgill von seinem üblichen kompositorischen System ab. Der letzte Part ist ein epischer, zutiefst emotionaler Choral als Hommage an Butch, mit einem irren Spannungsbogen, der als Klagelied beginnt, in einen Trauermarsch übergeht und einem Schluss von ergreifender Schönheit – trotz des überraschend abrupten Endes.

 

Tingvall Trio: Cirklar (Amazon)

Die Klarheit in der Komposition spielt eine große Rolle beim Tingvall Trio um Pianist Martin Tingvall Omar Rodriguez Calvo (Kontrabass) und Jürgen Spiegel (Schlagzeug). Und so drehen sich auch alle drei Instrumente weitgehend gleichberechtigt auf ihrer Laufbahn. Nicht umsonst hat das Trio ihr sechstes Album „Cirklar“ genannt. Es geht um Kreisläufe, wie die Ringe im Wasser oder die Jahresringe eines Baums. Schon beim sehr eingängigen Opener wird deutlich, warum dieses Trio zu den beliebtesten und erfolgreichsten in Deutschland gehört. Das überaus niveauvolle Zusammenspiel zwischen perkussiver Wucht und lyrisch-zartem, quellenden Pianospiel, die Melodik in den Werken, die durchaus auch mal tänzelnden Stücke wie etwa „Skansk Blues“ mit seinen rockigen Rhythmen, das, lassen dem Zuhörer viel Raum für Kopfkino, fürs Miterleben der Musik, die auf diesem Album etwas mehr auf Prägnanz in den Strukturen legt und somit auch das Tempo leicht zurücknimmt. Das Titelstück mit dem exzellenten Mittelteil, wo sich Bass und Piano den Führungsstab zuwerfen, ist von zeitloser Brillanz.

 

Youn Sun Nah: She Moves On (Amazon)

Youn Sun Nahs neues Album „She Moves On“, ein Paul Simon-Titel, steht für einen Wendepunkt. Die Koreanerin, die zwanzig Jahre lang in Paris lebte, ist vor zwei Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt und ging nach New York, um ihr neues Album aufzunehmen. Eine Zäsur ist das Album auch deshalb, weil sich die Sängerin auf die Kraft ihrer Gesangstimme konzentriert, ohne viel Mätzchen zu machen.   Insbesondere live liebt sie es ja, sich aufs artistische Hochseil zu begeben. Auf dem neuen Album zeigt sie, dass sie das gar nicht nötig hat, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ihr Sopran ist von einer berührenden Helligkeit, leise mahnend, eindringlich und höchst souverän. Und ihre Interpretation von Joni Mitchells „The Dawntreader“ ein Ereignis. Die Sängerin hat ein feines Händchen für die Auswahl ihrer Musiker bewiesen. Pianist und Produzent Jamie Saft prägt das Album ebenso wie Gitarrist Marc Ribot, Dan Rieser (Drums) und Brad Jones (Bass).

Das Album besteht aus modernen amerikanischen Klassikern, traditionellen Volksliedern und zwei ihrer epischen Originale. Ihre Komposition „Traveller“ zeugt von emotionalem wie chilligem Gesang und einer überaus einfühlsamen instrumentalen Kulisse. Lou Reeds „Teach The Gifted Children“, auf dem Stimme und Gitarre in perfekter Harmonie miteinander verbunden sind, bekommt durch sie eine neue Identität.

Der Titeltrack aus der Feder von Paul Simon wird von einem ruhigen Swing getragen. In fremderes Territorium begibt sich Youn Sun Nah mit Jimi Hendrix‘ „Drifting“, bei dem Marc Ribots Gitarre nach einem überraschend gedämpften Gesang einen feinen Gegenpart zum unverwechselbaren Gitarrensound der Rocklegende bildet. Johnny Mercers „Fools Rush In“ eröffnet sie mit einem neckischen Vers, bevor die Melodie die Zügel übernimmt, so wie es Ella wohl auch getan hätte. Youn Sun Nah liefert uns eine zarte, zurückhaltende Songinterpretation. Das ganze Album besticht durch ungemeine Musikalität, Emotionalität, ja, Intimität – und die Stimme von purer Schönheit wird durch die hervorragende Produktion fantastisch eingefangen.

 

Laia Genc: Birds (Amazon)

Mit ihrem neuen Werk beweist die 39-jährige gebürtige Berlinerin Laia Genc ihre schier unerschöpfliche Ausdruckskraft. „Phoenix“ ist vielleicht das zentrale Stück auf dem Album: Es beginnt in freier Weise im offenen Spiel von Schlagzeug und Bass, Jens Düppe stimmt fast einen indisch anmutenden, ganz leisen Rhythmus an, Genc schlägt die Saiten im offenen Flügel an, und wie aus dem Nichts schält sich eine flüsternde Melodie heraus, die sich immer mehr Struktur entwickelnd fortführt.

Es ist eine gewisse zurückhaltende Ästhetik, die zelebriert wird, eine Art Täuschung des Zuhörers, weil die bilderreichen, kraftvollen Melodielinien und improvisierten Parts mit klarer Finesse auf subtile Weise zusammengebracht werden. Das Klavier schafft Klangfarben, ohne je aufdringlich zu sein. Und Genc ist eine Musikerin, die Kopf und Seele gleichermaßen nutzt und sich von einer sehr intuitiven Rhythmusgruppe begleiten lässt.

Das Trio lässt sich Zeit, nimmt sich die Gelassenheit, um Spannung aufzubauen: Expressivität durch Ruhe, ja, die Werke strahlen eine Friedlichkeit aus, die indes nur dazu dient, die Saat für kreative Ausflüge zu säen. „Birds“ ist ein durchaus treffender Titel für das Album, das bestimmt ist von Offenheit und Weite, der Zuhörer kann den breiten Horizont geradezu greifen.

Der Opener „The Bird“, bei dem sich Düppe auf filigranes Beckenspiel und Braun auf leise Bassparts konzentrieren, zeugt genau von diesem Freimut. Dazu fügt sich Düppes Komposition „Allemande“ vorzüglich ein: ein fast kammermusikalischer Start, der von Tempowechseln (bis zu fast rockigen) lebt, von der Organik der Spieler. Zeit, das unterstreicht Düppe mit gelegentlich angedeutetem Uhrticken, spielt hier die entscheidende Rolle.