Wayne Shorter ist wieder „ohne Netz und doppelten Boden unterwegs“. Sein Projekt „Without A Net“, so der Titel seines jüngsten Albums, stand auch am Samstag in der ausverkauften Kölner Philharmonie im Mittelpunkt –Kompositionen mit viel Freiraum für Improvisationen, kein Stück kürzer als 15 Minuten.
„Wenn du ein Stück komponierst, bau‘ ein Fenster ein, aus dem wir fliehen können“, soll Miles Davis ihm mal geraten haben. Und daran hält er sich bis heute. Was der 80-jährige Saxophonist, der schon vor mehr als 50 Jahren Jazzgeschichte schrieb, mit seinem furiosen Quartett mit Pianist Danilo Pérez, Bassist John Pattitucci und Drummer Brian Blade da bot, muss wohl als das wichtigste Jazzereignis des Jahres in dieser Region gewertet werden.
Das Quartett setzte in jeder Hinsicht Maßstäbe: Sie beherrschen alle Techniken, um Stimmungen zu erzeugen. Pérez‘ Wechsel von Monk‘schen Blockakkorden zu perligen Läufen, Pattitucci lässt seinen Bass mal wie ein kammermusikalisches Cello erklingen, um dann wieder traumhaft-melodiöse Läufe à la Jaco Pastorius zu zaubern oder im Dialog mit Blade wilde Rhythmusunterlagen zu bieten. Blade ist ein kreatives Genie an seinem Schlagwerk, der es versteht, den Stücken zum passenden Zeitpunkt mal eine nötige Portion Dramatik zu verpassen oder mit einem sanft gespielten Takt zu unterlegen.
Sein Schlagzeug bearbeitet er mit Klöppeln, Stöcken, dem Besen oder einfach mit der Hand, er greift zu allerlei Percussionszubehör und ist dabei immer im Kontakt mit seinen Mitspielern. Überhaupt: Eine ungeheure Verbindung scheint zwischen den vier Musikern zu herrschen. Ein kleiner Seitenblick, eine winzige Geste Shorters reicht, um die Blockakkorde am Piano etwa in „Orbits“ etwas härter zu bekommen, den Basslauf in „Flying Down to Rio“ eine Spur exotischer.„Jazz ist ein Wagnis“, sagte Shorter einmal. „Jazz bedeutet: Trau dich, dich auf ein Wagnis einzulassen, um über des Mögliche zu blicken. Komm raus aus deiner Komfortecke, breche aus deiner bequemen Box heraus und begebe dich ins Ungewisse.“ Genau so sind seine Livekonzerte. Wer sie besucht, muss sich fallen lassen in die Welt des Wayne Shorter, in der nicht nur eine eigene Sprache herrscht, sondern auch völlig andere Gesetze, in der alles möglich ist.Das einzige, das es hier nicht gibt, ist das Vorhersehbare, hier gibt es keine Plattitüden, hier wird nicht gefaselt. In diesem Kosmos herrscht das Gesetz der Shorterschen Gravitation. Shorter als Zentrum des Universums, um das die drei anderen wie Planeten um ihn kreisen.
Miles Davis war schon in den 60er Jahren fasziniert von diesem Genie, der ursprünglich aus den Free Jazz kam, dann ab 1959 bei Art Blakey’s Jazz Messengers Erdhaftung und Freiraum für seine experimentellen Kompositionen erhielt. Als Miles Davis den jungen Tenor- und Sopransaxofisten 1964 abwarb, schrieb dieser: „Jetzt kommt die Zeit für große Musik.“In der Tat: Das Quintett mit Davis, Shorter, Ron Carter, Herbie Hancock und Tony Williams zählt bis heute zu den bahnbrechendsten, die der Jazz hervorgebracht hat. Die Konzerte, die die Truppe im Jazzclub „Plugged Nickel“ in Chicago im Dezember 1965 gaben, haben bis heute Kultcharakter.Kultcharakter bekommt auch diese Formation, mit der Wayne Shorter mittlerweile schon seit etwa zwölf Jahren spielt. Das Quartett wurde jüngst von internationalen Jazzkritikern bei der jährlichen Umfrage des amerikanischen Jazz-Magazins Downbeat zur besten Jazzband des Jahres gewählt – und das mit großem Abstand. Und Shorter gewann in drei weiteren Kategorien: als bester Sopransaxophonist, wichtigster Jazzmusiker, und auch sein aktuelles Album wurde auf Platz eins gesetzt. Nicht schlecht für einen 80-Jährigen.
Es ist die Eloquenz, die Dynamik, die Vitalität, die nach wie vor von seinem Spiel ausgeht, die Shorter so jung erscheinen lässt. Wie üblich ist Shorter in weiter dunkelgrauer Hose und langem Hemd gekleidet. Ein wenig gebückt ist sein Gang zu seinem Platz auf der Bühne, doch wenn er sein Horn ansetzt, ist von seinem Alter rein nichts mehr zu spüren. Er ist nach wie vor der „großartigste lebende Improvisierer“ (New York Times). Wie er diesen Wechsel von gehämmerten Staccatissimi und langen sparsamen Melodielinien einsetzt, macht ihm kaum einer nach.Formeln, Musikbausteine – die gibt es bei Shorter nicht. Schon im legendären Miles Davis Quintett und später in der Fusionformation Weather Report waren lange Proben verpönt. Die Kompositionen sollten nicht statisch wirken, sie sollten „wie flüssiger Wasserstoff“ sein, wie er mal erläuterte, als wäre es jedes Mal ein neues Stück. „Mit Without A Net springen wir jedes Mal vom Sprungbrett und tauchen ein in die transzendente Welt und suchen nach neuen Sounds“, erklärte der praktizierende Buddhist jüngst dem Downbeat. Das ist ihnen in Köln wieder einmal gelungen. Vom Publikum gab es frenetischen Beifall.(Cem Akalin)
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10. November 2013