Den zweiten Teil des vierten Konzertabends beim Jazzfest Bonn bestritten am Donnerstag die sechs sympathischen Sänger*innen der Estonian Voices Kadri Voorand (Alt), Mirjam Dede (Sopran), Maria Väli (Sopran), Rasmus Erismaa (Bariton), Mikk Dede (Tenor) und Aare Külama (Bass). Leider war der Ort für ihr Konzert nicht der richtige. Das glasüberdachte Atrium schallt so sehr, dass die Gesangsanlage entsprechend zurückhaltend eingestellt werden musste. So konnte man zwar auch hören, mit welcher Magie die Truppe ihre Stimmen einsetzt, aber das volle Volumen, das ganz entscheidend für die zum Teil sehr filigranen Passagen und mehrstimmigen, ausgewogenen Gesangsparts ist, konnte man leider nicht spüren. Sehr schade. Der Sound war zuvor bei Jasper van’t Hof indes kein Problem.
Von Dylan Cem Akalin
Die A-cappella-Gruppe Estonian Voices mischt Jazz, Folk und Pop zu einem sehr eigenen Stil, wobei die männlichen Stimmen überwiegend für rhythmische Begleitung oder zur Begleitung der die melodieführenden ersten Stimme eingesetzt werden. Mit Gruppen wie den New York Voices oder Manhattan Transfer haben sie nur entfernte Verwandtschaft. Denn dafür sind die Esten zu stark in ihrer heimatlichen Folklore verwurzelt. Herbie Hancocks „Cantaloupe Island“ kam dem vielleicht noch am nächsten.
Das Besondere ist das Zusammenspiel der so unterschiedlichen Gesangspersönlichkeiten, die klare und deutliche Schichtung der Stimmen sorgt für sagenhafte, mehrdimensionale Effekte. Die fantasievollen Arrangements, die Jazz, Folklore, Soul, Blues, Doo-Wop, Close-Harmony und Vocal Percussion mit spektakulären Scat-Improvisationen kombinieren, eröffnen kulturelle Welten.
„Hey Mr. Bubble“
„Hey Mr. Bubble“ ist eine ironische Betrachtung attraktiver Männer: „Außen schön, innen leer“, wie Kadri Voorand eingangs augenzwinkernd erklärt. Ein Pop-Song, bei dem der Bass von Aare Külama richtig schön durch den Raum dröhnt. „Bin ich mitten im Sturm oder bin ich der Sturm?“, fragt Maria Väli, um dann tatsächlich stimmliche und musikalische Naturgewalten über dem Publikum hereinbrechen zu lassen. Bei „Tokyo Blues“ von Horace Silver wiederum beeindruckt Kadri Voorand mit einem beachtlichen Scat-Gesang, bei dem sie alle Register zieht.
Wunderschön: „Ütle oma isale täna midagi ilusat“ – „Setz dich zu deinem Vater, erzähl ihm etwas Schönes und lass dein Herz hören“, darum ginge es in diesem melancholischen Song, erklärt die Sängerin. Ein Lied, in dem die Stille in den Pausen pulsiert. Stürmisch geht es bei „Tüli“ zu, ein Streit auf der Bühne mit viel Geschnatter, Gezeter und Gejaule und solistischen Meisterleistungen. Bei „Oota head meest“ scheinen die hohen Stimmen wie Tropfen in der Luft zu hängen, poppig-soulig ist das unbekümmerte „MM Lalalaa“ und „Hope Never Dies“ eine hübsche Liebesballade. Am Ende gibt es mit Arno Tamms „N’anga Nala“ nicht nur für die Protagonisten auf der Bühne die Möglichkeit, das innere Tier in sich brüllen zu lassen. Herrlich.