von Cem Akalin
Es war einer dieser Abende, an denen einfach alles passte. Manches wird in der Erinnerung sicherlich verklärt. Ob die laue Juli-Luft auf dem Heimweg wirklich so nach Jasmin, Sommerflieder und Bartblumen duftete? Doch das Gefühl nach dem Solo-Auftritt der amerikanischen Pianistin Lynne Arriale im Kammermusiksaal in Bonn bleibt unvergessen. Auch nach sieben Jahren. Schmetterlinge im Bauch. Ein Musikabend von besonderer Intensität. Arriale hat die besondere Begabung, ihre Virtuosität mit fragilen Momenten zu versetzen und so eine Spannung aufzubauen, die eine ungeheure Intimität erzeugt. Die Künstlerin gab auf der Bühne so viel von ihrem Gefühlsleben preis, dass man geradezu den Atem anhielt.
Nach solchen Konzerten wird klar, warum sich Jazz-Musiker, besonders die amerikanischen, für ihre Auftritte so fein machen. Der Drummer Elvin Jones schwitzte sich lieber seinen Anzug durch, als dass er auch nur seine Krawatte gelockert hätte. Ron Carter, Wynton Marsalis, Charlie Haden, Terell Stafford – sie würden niemals in Jeans und T-Shirt auftreten. Lynne Arriale, Esperanza Spalding, Melody Gardot, Madeleine Peyroux, Cécile Verny – aufgebrezelt, wie auf dem Weg zum ersten Date.
Und genau so sollte ein Jazz-Konzert auch sein. Ein Rendezvous mit seiner Liebsten (oder seinem Liebsten). „Jazz ist, was zwischen dir und mir geschieht, es ist Liebe“, hat Teddy Wilson (1912-1986), der Gentleman unter den Pianisten, der dem Piano in den dreißiger Jahren die Eleganz und Exklusivität gab, einmal gesagt. „Da ist etwas dran“, findet Peter Materna, Bonner Saxophonist und künstlerischer Leiter des Jazzfest Bonn, das vom 28. Mai bis 4. Juni an verschiedenen Orten der Stadt stattfinden wird.
„Ein Konzert wird nur dann gut, wenn man diesen intimen Einblick zulässt. Je authentischer der Musiker, desto besser sein Spiel.“ Nicht zuletzt gehöre auch das Optische zum Konzerterlebnis. Der Zuhörer/-schauer erlebt in der Gestik, in der Mimik jeden Ausdruck der Seele des Künstlers.
Und der Auftritt zeigt den Musiker so, wie er wirklich ist: „Ich bin eigentlich ein schüchterner Typ. Ich tanze nie und ich streite kaum. Aber da sind all diese Dinge in mir, die heraus kommen, wenn ich spiele“, sagt Bill Frisell, wohl einer der innovativsten Jazz-Gitarristen. „Das ist ein eigener Kosmos, in dem ich mich befinde, wenn ich auf der Bühne bin. Da kann ich all die Dinge tun, die ich im echten Leben niemals tun würde.“
Es gibt Meilensteine im Leben. Das erste Moped, der erste Kuss, der erste Urlaub ohne Eltern. Und Platten. Charlie Parkers Doppel-LP „One Night in Birdland“, natürlich John Coltranes „A Love Supreme“, Miles Davis‘ „Kind of Blue“ und „Seven Steps to Heaven“. Aber auf Billy Cobhams „Crosswinds“ spielte ein junger Tenorsaxophonist, der aufhorchen ließ: Michael Brecker. Ende der siebziger Jahre scheitert der Versuch, ihn in seinem New Yorker Club Seventh Avenue South anzutreffen. Er und sein Bruder Randy waren auf Tour. Jahre später trifft man sich beim Frühstück in einem Hotel in Den Haag. Das ist der Kerl mit dem überirdischen Ton? Der vor Schüchternheit kaum ein Wort herausbringt?
Das Besondere als Musiker sei ihm dieser Augenblick, wenn der Austausch mit den anderen auf der Bühne stattfindet, das Sich-gegenseitig-Platz-lassen, das Bälle zuwerfen, erklärt Materna. „Ich freue mich auf jedes meiner Konzerte, weil es ein Zusammentreffen guter Freunde ist. Wenn wir auf der Bühne stehen, dann sind wir Brüder im Geiste.“ Im Jazz ist nichts festgelegt, es gibt praktisch keine Grenzen. Somit ist es das Unerwartete, die Überraschung, worauf das Publikum wartet.
Wer die vier Scherzi von Chopin hören will, möchte, dass der Pianist sich genau an die Komposition hält. Der Pianist bereitet sich monatelang auf diesen einen Abend vor, um das Werk in seiner Perfektion zu präsentieren. Wer zu einem Konzert von Pink oder Coldplay geht, möchte nicht, dass die Hits anders klingen als im Radio. Der Jazz aber will, dass sich Musiker und Zuhörer auf den organischen Prozess des spontanen Komponierens, also des Improvisierens, einlassen. „Wenn ich Jazz als irgendwas beschreiben soll, dann eher als so was wie einen Prozess, vielleicht ist es ja ein Verb. Aber es ist definitiv kein Ding. Er verlangt von dir, Dinge zu tun, die dir etwas bedeuten, die sehr persönlich sind“, versucht es der Gitarrist Pat Metheny mit einer Definition.
Egal, wen man fragt, was Jazz ist, jeder gerät erst mal ins Straucheln – und dann ins Schwärmen. Genauso gut könnte man fragen: Was ist Liebe? Jazz. Schon dieses Wort mit seinem dreckig lang gezogenen Vokal.
Woher das Wort stammt, darüber besteht kaum Einigkeit. Es soll zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Parfüm namens „Jass“ gegeben haben, das die Huren von New Orleans gerne benutzten. Andere sagen, es leite sich von einem Slang-Wort ab. „Jasm“ bedeutet laut Historical Dictionary of American Slang: Geist, Energie, Lebenskraft. Wieder andere meinen, es komme aus dem Französischen. Jaser bedeutet plaudern, chasser jagen, die Iren beanspruchen die Herkunft des Wortes, weil der irische Tee „Jass“ für Leidenschaft und Hitze stehe. Irgendwie passt alles.
Der Jazz habe, meint Materna, seine Entwicklung an die Industrialisierung und den sozialen Wandel angepasst. „Der Jazz war stets am Puls der Zeit. Von daher spricht er auch immer schon eine moderne Klientel an. Die Improvisation etwa ist ein aktuelles Thema. Alle Menschen müssen in ihrem täglichen Leben improvisieren, moderne Unternehmen erwarten das von ihren Mitarbeitern.“
Brauchen wir den Jazz also heute mehr denn je? „Wir brauchen den Jazz, weil er für eine universelle Sprache, weil er für die Überwindung von kulturellen Unterschieden steht“, sagt Lynne Arriale. „Jazz verkörpert den Geist der Freiheit, es ist der musikalische Ausdruck von Teamgeist. Es ist die Schönheit des Moments und die spontane Improvisation, was Jazz zu etwas Besonderem macht. Das Publikum fühlt den Klang der Überraschung. Es ist eine magische Erfahrung, Jazz zu hören.“
Für Miles Davis, den Großmeister des modernen Jazz, war es genau diese magische Erfahrung, die er sein ganzes Leben versuchte, mit seiner Musik einzufangen. In seiner Autobiografie beschreibt er, wie er als 18-Jähriger zum ersten Mal Dizzy Gillespie und Charlie Parker in einem Club in St. Louis erlebt. „Es war so unglaublich, dass man es mit der Angst zu tun bekam“, schreibt er. „Es ging mir durch und durch. Ich hatte die Musik überall in meinem Körper.“
Das Gefühl dieser einen Nacht im Jahr 1944, veränderte sein Leben. „Die Musik, die ich jeden Tag spiele, ist immer ein Versuch, dieses Gefühl wieder zu finden“, so Miles. “ Mann, genau das war’s.“