Pssst… jetzt mal bitte ganz ruhig. Joan Baez singt. Man hätte die Temperatur fallen hören können. So ruhig war es am Freitagabend auf dem Roncalliplatz in Köln. Nicht mal das Publikum eines Kurkonzerts kann so bedachtsam vor der Bühne sitzen wie die Kölner beim wohl letzten Konzert einer Legende. Ein legendärer, ein so emotionaler Abend, dass ich ihn wohl nie vergessen werde. Joan Baez macht Station am Dom auf ihrer Fare Thee Well Tour . Im Februar 2019 gibt es noch drei Konzerte in Deutschland. Das war’s dann. Nach gut 60 Jahren auf den Bühnen dieser Welt macht die Folksängerin Schluss mit ihrer aktiven Karriere.
Von Dylan Cem Akalin
War’s diese konzentrierte, doch gelassene Atmosphäre vor der Kulisse des imposanten Doms, dass man sich so mit seinem ganzen Sein auf diese wunderbare Künstlerin einlassen konnte? War’s dieses außerordentliche Charisma, das von Joan Baez ausgeht. Ihr immer noch eindringlicher Gesang?
Wahrscheinlich das alles zusammen. Das erlebt man tatsächlich (leider) sehr selten, dass das Publikum so respektvoll und konzentriert einem Künstler zuhört. Und das bei einem Open-Air-Konzert. Anderthalb Stunden Dauergänsehaut am ganzen Körper. Bei „A Hard Rains A-Gonna Fall“ hatte ich selbst Tränen in den Augen. Baez singt den Dylan-Song wie einen Brief einer Mutter an ihren Sohn. Bob Dylans fast prophetische Ballade voller dystopischer Bilder singt sie mit einer so gefassten, weisen und gleichzeitig zärtlichen Art, dass das kaum jemanden im Publikum kalt lassen konnte. Ich blicke mich um. In meiner Sitzreihe wischt sich eine Frau mit einem Taschentuch über die Augen, der Mann schräg vor mir drückt seine Partnerin fester an sich.
Denselben Song hatte Baez am Abend zuvor schon mit Patti Smith gesungen. „Es war so ein großartiger Augenblick“, schwärmt Baez immer noch von dem Abend. „Aber mir war es so peinlich, dass ich den Text nicht mehr auswendig wusste. Deshalb singe ich ihn heute Abend nochmal.“ Was für ein Glück für uns.
Endgültiger Abschied
Es ist ein Abend des endgültigen Abschieds, bei dem sie mit der Auswahl der Songs auf ihr eigenes Leben zurückblickt. In den gut sechs Dekaden hat Joan Baez alles durchgemacht, was eine Folk- und Protestsängerin erleben kann. Sie war Sprachrohr der Unterdrückten, der Kriegsgegner, der Verlorenen. Ihr unermüdliches Engagement ist so bekannt und glaubhaft wie ihre Songs. Sie marschierte neben Martin Luther King und stand mit Cesar Chavez, dem Gründer der US-amerikanischen Landarbeitergewerkschaft United Farm Workers, auf den Feldern von Kalifornien und kämpfte für die Rechte der mexikanischen Immigranten. Der New York Times sagte sie kürzlich: „Wenn ich auf die Bühne gehe, mache ich keine Geschichte, ich bin Geschichte.“ Wie wahr.
Als sie gegen viertel nach Acht die Bühne betritt, steht sie allein im gleißenden Scheinwerferkegel. Sie und ihre Gitarre. Mehr braucht sie nicht. Ihre Stimme ist immer noch kraftvoll und makellos, der Sopran ist freilich längst nicht mehr so glockenhell wie einst, und er erklingt auch nur gelegentlich. Ihre Stimme hat etwas von einer Singdrossel. Satt, durchdringend, fröhlich-melancholisch. Ihrem Alter entsprechend hat sie Songs ausgewählt, die zu ihrem reifen Sound passen. Das klingt reich und erhaben. Manchmal erinnert sie an die späte Joni Mitchell.
Joan Baez und Bob Dylan
Und die Klassiker sind immer noch mitreißend. „House of The Rising Sun“ ist von einer schleichenden, bluesigen Glückseligkeit, „Diamonds & Rust“, der Song über ihre Beziehung mit Bob Dylan, strahlt eine melancholische Ruhe aus. Und dann lässt sie ihre Background-Sängerin Grace Stumberg mit kraftvoller Stimme eine Strophe singen. Großartig. „Here comes your ghost again“, heißt es da. Und so war es ja auch. Bob Dylan war da an diesem Abend. Bei „It’s All Over Now Baby Blue“ singen alle mit, „“Blowing in the Wind“ beendet als letzte Zugabe das Konzert, und „Farewell, Angelina“, der Song über eine Welt, die in Scherben liegt, hatte Dylan einst Joan überlassen. Es ist der Titelsong ihres Albums von 1965. Meines Wissens hat Dylan den Song nie live gesungen. Bei diesem Song fällt an diesem Abend zum ersten Mal auf, dass sie die hohe Stimmlage meidet. Macht nichts. Der Song ist und bleibt ihrer.
Besonders mächtig waren die Lieder, die soziale Ungerechtigkeiten thematisieren. Woody Guthries „Deportee“ ist mit der Fidel-Begleitung ein Tex-Mex-Countrysong voller Leidenschaft, und Baez erzählt, dass sie das Lied mit den Familien der ungenannten Mexikaner gesungen habe, die 1948 beim Absturz des Flugzeuges, mit dem sie abgeschoben wurden, ums Leben kamen.
Aufruf zum Widerstand
„Another World“ ist ein Aufruf zum Widerstand. So minimalistisch ist die Instrumentierung, sie schlägt lediglich mit der Handfläche auf ihre Gitarre und warnt, dass diese Welt dabei ist, zu verschwinden. Ein Taubenpärchen segelt vor der Bühne über den Platz. Wie inszeniert.
„I’m gonna miss the birds
Singing all there songs
I’m gonna miss the wind
Been kissing me so long“
Der Wind bläst durch ihre kurzen weißen Haare. Joan Baez schickt uns auf eine Reise in unser Inneres, singt Tom Waits Song „Whistle Down The Wind“ über die Sehnsucht, auszubrechen, Simon and Garfunkels „The Boxer“, das Klagelied eines einsamen, erfolglosen Jungen, Kris Kristoffersons Song über Janis Joplin („Me And Bobby McGee“). Musik, die Bilder von der Route 66, von einsamen Diners an menschenleeren Highways erweckt. Es ist wie die Essenz der amerikanischen Popkultur. Sie singt all die Hymnen unserer frühen Helden, wie Lennons Imagine. Aber sie präsentiert sie auf eine beherzigenswerte Art. Ohne schwülstiges Pathos.
Schönheit im Angesicht des Bösen
Sie wolle „Schönheit im Angesicht des Bösen“ schaffen, hat sie mal in einem Interview gesagt. Und so lässt sie uns teilhaben an ihrer Liebe, an ihrer Huldigung des Lebens und ihrem ernsthaften Protest. Den revolutionären Geist hat sie nämlich noch längst nicht aufgegeben. Also singt sie weiterhin für all die Flüchtlinge, die auf der Suche nach einem friedlichen Leben sind, und die Immigranten, die dem Elend ihrer Heimat entkommen wollen und, wie all die mexikanischen Illegalen auf den kalifornischen und texanischen Feldern und Flüchtlinge auf den spanischen Plantagen, „dafür sorgen, dass wir Essen auf den Tisch bekommen. Ich sage ihnen Dankeschön“. Sie hätten es nicht verdient, nicht willkommen zu sein, ruft sie.
Sie singt Claudius‘ „Der Mond ist aufgegangen“ und Wegeners „Sind so kleine Hände“, Pete Seegers Traditional auf Deutsch („Wo sind all die Blümen…?“) Ein besonderer Augenblick: Als sie die Geschichte zu Zoe Mulfords „The President Sang Amazing Grace“ (aus ihrem aktuellen Album) erzählt. Der Anschlag auf eine von Afro-Amerikanern besuchte Baptistenkirche, bei dem neun Menschen während des Gottesdienstes von einem Weißen ermordet werden. Dem Präsident (Obama), der an die Unglücksstelle eilt, fehlen die Worte, und er singt „Amazing Grace“.
Dennoch: Joans Baez, die an diesem Abend von ihrem Sohn Gabe Harris am Schlagzeug und dem erstaunlichen Multiinstrumentalisten Dirk Howell begleitet wird, vermittelt Hoffnung. Glücksgefühle. Wohlige Kollektivempfindung. Um’s mit ihren eigenen Worten zu sagen: „Vielen Danke.“